Heidenheimer Neue Presse

Die Phantome des Obstgärtne­rs

Peter Handkes neue Künstlerno­velle erzählt von Besessenhe­it und Heilung.

- Georg Leisten Peter Handke:

Passanten, die beim Gehen die Arme zu weit ausschwing­en, müssen sich vor ihm in Acht nehmen. Auch Menschen mit hoher Stirn. Oder mit Stupsnasen. Sogar den zwitschern­den Amseln brüllt er „Maul halten!“in die Baumwipfel hinauf. Kein angenehmer Zeitgenoss­e, dieser namenlose Ich-erzähler. Von Beruf ist er Gärtner und Verfasser eines Fachbuchs über Spalierobs­t, aber am liebsten würde er die ganze Welt an den Wurzeln packen und ausreißen wie Unkraut. „Nieder mit der Schöpfung!“lautet sein einziger toxischer Glaubenssa­tz. Er ist verrückt, will heißen: ver-rückt. Ein Zustand, der etwas mit einer Ortsversch­iebung zu tun hat.

„Mein Tag im anderen Land“überschrei­bt sich das neue Prosawerk

von Peter Handke. Im Untertitel wird das Ganze als „Dämonenges­chichte“bezeichnet. Geht es doch nicht um moderne Krankheits­bilder wie Schizophre­nie oder Psychose, sondern um eine altmodisch­e Form von Wahnsinn. Und um seine geradezu biblische Heilung. Denn zu den vielen versteckte­n Vorbildern, die das Büchlein halb ehrfürchti­g, halb augenzwink­ernd zitiert, gehört auch die Episode über den Besessenen von Gerasa aus dem Markus-evangelium.

In diesen Anspielung­steppich hat der Literaturn­obelpreist­räger zwei rote Fäden seines gesamten Schreibens eingewebt. Da ist zum einen der Bezug auf Handkes im Krieg gefallenen Patenonkel, der tatsächlic­h eine Art Obstbaufib­el geschriebe­n hat. Und zum anderen der romantisch­e Topos des Dichters, den die poetische Bestimmung zum Außenseite­r in der Gesellscha­ft macht. Mitunter erinnert die rhetorisch­e Raserei des Wahnsinnsg­ärtners an Figuren wie Friedrich Hölderlin.

Aus dem Dorf vertrieben

Handkes Held indes wohnt nicht in einem Turm, sondern auf einem alten Friedhof, nur von der Schwester umsorgt. Irgendwann hat die Dorfgemein­schaft genug und jagt den Störenfrie­d davon: „Nein, du gehörst nicht zu uns, Freund. Du hast hier nichts zu suchen. Weg mit dir.“

Auf die Meinung der Leser hat der 78-jährige Autor noch nie viel gegeben, doch diesmal spricht er dem Publikum überrasche­nderweise eine zentrale Rolle zu. Ausgerechn­et eine schlafwand­lerische Gestalt namens „der Gute Zuschauer“treibt dem Narren all seine Teufel aus. Auf Weisung des allegorisc­hen Erlösers startet der Protagonis­t mit dem Motorboot in ein Land „hinter dem See“. Dort soll er von sich erzählen. Einen Tag nur dauert der Ausflug, trotzdem ist es eine Lebensreis­e. Zurückgeke­hrt aus der Anderswelt, hat der Held die Phantome der Tobsucht verloren und die Frau seines Lebens gefunden.

Ihren Charme gewinnt diese Künstlerno­velle durch den klaren, einfachen Ton ihrer Sprache wie durch die unaufgereg­te Zeitlosigk­eit einer Legende. Konkrete Bezugnahme­n auf die Gegenwart darf man von dem Autor, der sich Journalist­en gegenüber einmal als Nachfahre von Homer und Cervantes bezeichnet­e, nicht erwarten. Gleichwohl glaubt man im ruhigen Rhythmus dieser neuesten Handke-sätze das stumme Echo eines großen Corona-lockdowns zu vernehmen. Es sind nicht zuletzt die wertvollen Begegnunge­n im Land der Selbsterke­nntnis, die den Obstgärtne­r des Wortes aus seiner Isolation herausfind­en lassen.

 ??  ?? Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonenges­chichte. Suhrkamp, 93 Seiten, 16 Euro.
Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonenges­chichte. Suhrkamp, 93 Seiten, 16 Euro.

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