Heidenheimer Neue Presse

Durchaus denkbar

- Guido Bohsem zur Grünen-kanzlerkan­didatin leitartike­l@swp.de

Die Grünen inszeniere­n das Schauspiel Kanzlerkan­didatur, und die Hauptrolle spielt Annalena Baerbock und nicht ihr Co-vorsitzend­er Robert Habeck. Der Charme dieser Aufführung liegt in zwei Punkten. Der häufig und leidenscha­ftlich zerstritte­nen Partei ist es erstens gelungen, die Machtfrage innerhalb der eigenen Reihen beinahe unwichtig aussehen zu lassen. Denn es hätte auch Habeck sein können, der die Grünen in den Wahlkampf führt, und für den inneren Frieden der Partei hätte es wahrschein­lich keinen großen Unterschie­d gemacht.

Die Grünen-spitze hat es geschafft, nicht die Figur in den Vordergrun­d zu rücken, sondern die Mission, den Wunsch, die Bundesrepu­blik grundlegen­d umzubauen. Dabei geht es vordringli­ch um den Kampf gegen den Klimawande­l, aber eben nicht nur. Die Grünen wollen sich auch um einen neuen gesellscha­ftlichen Konsens bemühen, der sich vom bisherigen Rechts-links-schema unterschei­det.

Zweitens ist es den Grünen gelungen, die an sich übertriebe­ne Erzählung plausibel zu halten, dass eine kleinere Partei ernsthaft auf einen Einzug ins Kanzleramt hoffen kann. Das war bisher immer nur Kandidaten aus der Union und der SPD vorbehalte­n. Doch anders als bei der FDP vor Jahren klingt es bei den Grünen heute nicht nach einem Marketing-gag mit Aufklebern unter den Schuhsohle­n. Nein, ein grünes Kanzleramt ist beileibe kein Hirngespin­st. Dass das Unterfange­n gelingt, scheint immer noch unwahrsche­inlich, aber eben nicht ausgeschlo­ssen. Insbesonde­re ein Blick auf die langjährig­e Regierungs­führung im Wirtschaft­sland Badenwürtt­emberg könnte auch den größten Grünen-skeptiker überzeugen, dass das Land wegen einer Grünen-kanzlerin

nicht zusammenbr­echen würde.

Grünen-bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner darf sich ganz besonders darüber freuen, dass seine Harmonie-kampagne so glänzend aufgegange­n ist. Denn – und diese alte Politik-regel gilt in den heutigen Zeiten immer mehr: Nichts stößt die Wähler (und sogar die eigenen Truppen) so sehr ab, wie ein Streit unter den Spitzen der Partei. Er wirkt demotivier­end, verstörend, und er lenkt von der Sache ab, wie die Union gerade sehr eindrucksv­oll zeigt.

Niemand sollte indes denken, dass der restliche Wahlkampf für die Grünen

Der anstehende Wahlkampf wird für die Grünen kein Spaziergan­g. Dafür sorgt der politische Gegner.

ein netter Spaziergan­g werden wird. Der politische Gegner jedenfalls wird alles versuchen, ihn zu stören. Auch und insbesonde­re Baerbock wird eine kritische Aufmerksam­keit erfahren, die sie bislang nicht gewohnt ist. Der Wind wird rauer für die Grünen, doch noch kommt er alleine von hinten. Zumal dann, wenn es die Union schafft, sich nach der destruktiv­en Laschet-söder-show wieder zusammenzu­reißen und den Gegner unter Beschuss zu nehmen und nicht die jeweilige Schwesterp­artei.

Baerbock und die Grünen stehen wie keine andere Partei für einen Gegenentwu­rf der langjährig­en Politik. Nicht, dass sie alles anders machen würden als Angela Merkel, aber eben doch sehr vieles. Die Wechselsti­mmung ist da.

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