Durchaus denkbar
Die Grünen inszenieren das Schauspiel Kanzlerkandidatur, und die Hauptrolle spielt Annalena Baerbock und nicht ihr Co-vorsitzender Robert Habeck. Der Charme dieser Aufführung liegt in zwei Punkten. Der häufig und leidenschaftlich zerstrittenen Partei ist es erstens gelungen, die Machtfrage innerhalb der eigenen Reihen beinahe unwichtig aussehen zu lassen. Denn es hätte auch Habeck sein können, der die Grünen in den Wahlkampf führt, und für den inneren Frieden der Partei hätte es wahrscheinlich keinen großen Unterschied gemacht.
Die Grünen-spitze hat es geschafft, nicht die Figur in den Vordergrund zu rücken, sondern die Mission, den Wunsch, die Bundesrepublik grundlegend umzubauen. Dabei geht es vordringlich um den Kampf gegen den Klimawandel, aber eben nicht nur. Die Grünen wollen sich auch um einen neuen gesellschaftlichen Konsens bemühen, der sich vom bisherigen Rechts-links-schema unterscheidet.
Zweitens ist es den Grünen gelungen, die an sich übertriebene Erzählung plausibel zu halten, dass eine kleinere Partei ernsthaft auf einen Einzug ins Kanzleramt hoffen kann. Das war bisher immer nur Kandidaten aus der Union und der SPD vorbehalten. Doch anders als bei der FDP vor Jahren klingt es bei den Grünen heute nicht nach einem Marketing-gag mit Aufklebern unter den Schuhsohlen. Nein, ein grünes Kanzleramt ist beileibe kein Hirngespinst. Dass das Unterfangen gelingt, scheint immer noch unwahrscheinlich, aber eben nicht ausgeschlossen. Insbesondere ein Blick auf die langjährige Regierungsführung im Wirtschaftsland Badenwürttemberg könnte auch den größten Grünen-skeptiker überzeugen, dass das Land wegen einer Grünen-kanzlerin
nicht zusammenbrechen würde.
Grünen-bundesgeschäftsführer Michael Kellner darf sich ganz besonders darüber freuen, dass seine Harmonie-kampagne so glänzend aufgegangen ist. Denn – und diese alte Politik-regel gilt in den heutigen Zeiten immer mehr: Nichts stößt die Wähler (und sogar die eigenen Truppen) so sehr ab, wie ein Streit unter den Spitzen der Partei. Er wirkt demotivierend, verstörend, und er lenkt von der Sache ab, wie die Union gerade sehr eindrucksvoll zeigt.
Niemand sollte indes denken, dass der restliche Wahlkampf für die Grünen
Der anstehende Wahlkampf wird für die Grünen kein Spaziergang. Dafür sorgt der politische Gegner.
ein netter Spaziergang werden wird. Der politische Gegner jedenfalls wird alles versuchen, ihn zu stören. Auch und insbesondere Baerbock wird eine kritische Aufmerksamkeit erfahren, die sie bislang nicht gewohnt ist. Der Wind wird rauer für die Grünen, doch noch kommt er alleine von hinten. Zumal dann, wenn es die Union schafft, sich nach der destruktiven Laschet-söder-show wieder zusammenzureißen und den Gegner unter Beschuss zu nehmen und nicht die jeweilige Schwesterpartei.
Baerbock und die Grünen stehen wie keine andere Partei für einen Gegenentwurf der langjährigen Politik. Nicht, dass sie alles anders machen würden als Angela Merkel, aber eben doch sehr vieles. Die Wechselstimmung ist da.