Bewusst ungerecht
Guido Bohsem zur Corona-gerechtigkeit Leitartikel
Was ist gerecht? Das ist eine ewige Frage, die in den Corona-monaten besonders aktuell ist. Die Krise fordert unser Fairness-empfinden und zwar von Anfang an. Grob gesprochen sind zwei Ansätze im Kampf gegen das Virus möglich: Entweder geht es darum, als Gesellschaft möglichst gut mit Corona auszukommen, oder aber es könnte unser Ziel sein, so viele Menschen wie möglich vor dem Tod durch die Seuche zu retten.
Die Entscheidung ist leider ohne ausdrückliche Erklärung gefallen. Bund und Länder haben sich für den ersten Ansatz entschieden. Ginge es alleine darum, möglichst viele Leben zu retten, wäre der Umgang mit Corona deutlich einfacher: Man müsste das Land einfach nur jedes Mal dicht machen, wenn die Infektionszahlen nach oben gehen, und zwar vollständig und ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen oder auf die Kosten, die nicht nur die aktuelle, sondern auch kommenden Generationen dadurch tragen müssen.
Weil sich die Politik bei anfangs hoher Zustimmung anders entschieden hat, entstehen neue Ungerechtigkeiten, sind bestimmte Berufsgruppen härter von den Einschränkungen getroffen als andere, konzentriert sich die Kontaktreduzierung auf den privaten Bereich und lässt die Wirtschaft außen vor. Obwohl es klar ist, dass es zu Ansteckungen auch in Betrieben und in öffentlichen Verkehrsmitteln kommt. Auch wenn es keiner ausdrücklich sagt, es geht immer um eine Interessensabwägung zwischen Opfern der Pandemie und Wirtschaftsinteressen. Letztere dienen übrigens nicht nur der „Wirtschaft“und deren Bossen, sondern sie dienen zudem jedem Beschäftigten im Land und auch unseren Kindern, die so auf eine einigermaßen gesicherte ökonomische Zukunft blicken können.
Es überwiegt die Überzeugung, dass die Begleitschäden zu groß wären, wenn man es anders machen würde. Mit ähnlichen Schwierigkeiten ist die Politik übrigens auch konfrontiert, wenn es um die Frage geht, ob die Impfreihenfolge aufgehoben oder womöglich durch eine neue ersetzt werden soll. Ist es gerecht, junge Menschen und Jugendliche ganz hinten einzugliedern? Nein, natürlich nicht, denn warum sollte man weniger Anrecht auf eine Impfdosis haben als seine Eltern – zumal, wenn man mit ihnen noch in einem Haushalt
Es kommt darauf an, Ungerechtigkeiten anzusprechen und zu begründen. Das fehlt derzeit.
lebt. Das Recht auf Bildung wiegt auch nicht weniger als das Recht auf Ausübung des Berufs.
Eine Freigabe der Impfreihenfolge würde diese Abwägung vor allem in die Verantwortung der Hausärzte stellen, was eine Überforderung darstellt. Die meisten Mediziner werden darauf reagieren und das Windhundprinzip anwenden: Wer zuerst kommt, wird zuerst geimpft. Auch das kann man ungerecht finden, etwa für Personengruppen, die so einen Wettlauf aus unterschiedlichen Gründen – Stichwort Sprachbarrieren – nicht so gut beherrschen. Es kommt darauf an, diese Ungerechtigkeiten anzusprechen und zu begründen. Das macht es einfacher, die manchmal auch nur so empfundene Benachteiligung zu ertragen.