„Napoleon wurde ermordet“
Vor 200 Jahren starb der Feldherr in der Verbannung auf St. Helena. Der Historiker Thomas Schuler vertritt die These, dass ein enger Vertrauter ihn aus Habgier vergiftete.
Er war ein Held der Französischen Revolution, unterwarf als Feldherr halb Europa und krönte sich zum Kaiser. Dann marschierte der 1769 auf Korsika geborene Napoleon mit seinem Heer ins russische Zarenreich und wurde 1813 in der Leipziger Völkerschlacht und 1815 bei Waterloo vernichtend geschlagen. Jetzt verbannten ihn die Engländer nach St. Helena, auf eine Insel im Südatlantik, fast 2000 Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt. Rund 3000 Soldaten waren abkommandiert, um ihn dort zu bewachen. Napoleon durfte sich relativ frei bewegen, verfasste seine Memoiren, reflektierte seine Taten ohne Selbstmitleid. Er starb vor 200 Jahren, am 5. Mai 1821.
Die Todesursache? Adam Zamoyski etwa schreibt in seiner monumentalen „Napoleon“-biografie, dass bei dem Korsen im Januar 1819 eine schwere Hepatitis diagnostiziert worden sei. Und dass Napoleon sich seit Herbst 1820 im Endstadium einer Krankheit befunden habe, „die entweder von Krebs oder gastrointestinalen Blutungen infolge einer von Magengeschwüren durchbrochenen Bauchwand verursacht war“. Es gibt auch andere Theorien. „Napoleon wurde ermordet“, sagt jetzt der Historiker und Napoleon-experte Thomas Schuler.
Napoleon sei mit Sicherheit keine Lichtgestalt der Geschichte, meint der 1970 in Ulm geborene Schuler, „aber auch nicht der aggressive Kriegsverbrecher – die Wahrheit liegt in der Mitte“. Napoleon habe zum Beispiel mit dem Code Civil ein Rechtssystem geschaffen, das das fortschrittlichste in einer Zeit war, als in Preußen noch die Leibeigenschaft, in England die Demokratie nur für eine kleine Minderheit galt und 95 Prozent der Menschen in Russland praktisch besitzlose Sklaven waren.
Mehr als eine halbe Million Bücher wurden über Napoleon geschrieben, mehr als über jeden anderen Menschen, der jemals gelebt hat. Man sieht: Stoff für Kriminalromane gäbe es auch.
In seinem Testament behauptet Napoleon, er sterbe „infolge eines Attentats der britischen Regierung und dessen gedungenen Henkers“. Wie meinte er das? Thomas Schuler:
Als Napoleon auf St. Helena ankam, war er bei bester Gesundheit, er hatte noch 20, 30 Jahre vor sich. In Waterloo war er dem Feldmarschall Blücher nach einem verwegenen Gewalt ritt durch die Nacht entkommen. In Russland hatte er auch bei 40 Grad Minus nicht gefroren, er war es gewohnt, im Freien bei Regen zu schlafen – also der Mann war ziemlich robust. Aber seit Mitte 1816 ging es ihm stetig schlechter und seit 1818/1819 richtig schlecht. „Der Zustand ist mir völlig unerklärlich“, schrieb er über seine Magenprobleme. So mutmaßte er, dass die Engländer schuld waren an seinen Leiden.
War das so?
Es war Mord. Aber der Marquis
de Montholon vergiftete Napoleon, aus Habgier.
Wer war dieser Montholon?
Ein zwielichtiger Charakter. In seiner Biografie gab er an, bei diversen Schlachten Napoleons durch Heldentaten geglänzt zu haben. Aber das war frei erfunden, 1814 hatte er sich vor dem Kriegsdienst mit einem Attest gedrückt. Er war ein Glücksspieler und stahl auch Geld aus einer Regimentskasse. Montholon war 1815 Napoleons Generaladjutant, folgte ihm nach St. Helena und gehörte dort zur Entourage. Er wurde Napoleons engster Vertrauter, er hat ihm sogar seine Ehefrau ins Bett gelegt, ihm deren Liebesdienste vermittelt. Zwei Wochen vor seinem Tod änderte Napoleon dann sein Testament – er setzte Montholon als den Hauptbegünstigten ein, vermachte ihm zwei Millionen Goldfrancs von zur Verteilung stehenden vier Millionen.
In den Geschichtsbüchern steht aber gewöhnlich, dass Napoleon an Magenkrebs starb. Und dann kursiert noch eine „Tapetentheorie“.
In den 1960er Jahren wurden 21, aus der ganzen Welt zusammengetragene Haarproben Napoleons gerichtsmedizinisch untersucht, und zwar anonym und auch in einem Labor des FBI. Das Ergebnis: eine vier- bis 65-fach erhöhte Konzentration von Arsen.
Und es sind tatsächlich Napoleons Haare?
Auf jeden Fall ist es wissenschaftlich belegt, dass alle Haare von derselben Person stammen. Und es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass keines dieser Haare, die als Devotionalien aus St. Helena weitergereicht und weitervererbt wurden, Napoleon gehörte.
Es geht also um Arsen. Weshalb es auch besagte „Tapetentheorie“gab, dass nämlich Napoleon durch das Einatmen des Gifts über die Tapete in seinem Schlafgemach umgekommen sei.
Ein kleines Stück aus einer Tapete, das Souvenirjäger 1825 aus dem Sterbezimmer in Longwood House herausgeschnitten hatte, wurde 1980 untersucht. Es wurde ein Gehalt von 120 Milligramm Arsen pro Quadratmeter festgestellt. Der Toxikologe Pascal Kintz aber analysierte 2002, „dass es sich bei dem in Napoleons Haar vorhandenen Arsen zu 97 Prozent um mineralisches Arsen handelte und nicht um organisches, das in der damaligen Tapetenfarbe enthalten war“. Damit war diese Theorie vom Tisch.
Aber was ist nun passiert?
Ich halte mich nur an die Fakten. Man kann bei Napoleon 31 der 33 bekannten Symptome einer chronischen Arsenvergiftung nachweisen, darunter auch Lichtempfindlichkeit und Taubheit – definitiv keine Symptome von Magenkrebs. Allerdings steht in jedem Lehrbuch der Toxikologie, dass eine solche Arsenvergiftung Magengeschwüre und Krebs auslösen kann.
Und jetzt kommt der Marquis die Montholon ins Spiel?
Es gibt eine Liste der Bücher, die auf St. Helena in Napoleons Bibliothek standen, darunter ist ein Klassiker über die Verbrechen des 17. Jahrhunderts in Frankreich, der natürlich ausführlich auch den Fall der Marquise de Brinvilliers schildert, einer der berühmtesten
Ein Buch über die Giftmörderin Marquise de Brinvilliers stand in der Bibliothek. Thomas Schuler Napoleon-experte
Giftmörderin aller Zeiten. Die hatte mit Arsen ihren Vater und ihre beiden Brüder ermordet, um an das Erbe zu kommen. Das war die Blaupause zu dem, was faktisch stattfand in Longwood House. Montholon plante den Mord von langer Hand. Erstaunlich auch, dass es 1818 in einer Woche drei Tote gab in Napoleons engstem Umfeld: ein Jugendfreund, der für seine Sicherheit zuständig war, brach mit Unterleibsschmerzen beim Abendessen zusammen, dazu eine Bedienstete Montholons und ein Kleinkind. So fragt man sich: Fürchtete Montholon, dass ihm jemand auf die Schliche gekommen war?
Der mittellose Montholon war in Napoleons erstem Testament von 1819 zunächst nur mit 50 000 Francs bedacht worden, dann plötzlich winkte die große Erbschaft. Wie konnte er sicher sein, dass Napoleon nicht wieder seinen letzten Willen in den Kamin wirft?
Am 3. Mai, also zwei Tage vor Napoleons Tod, wurde dem stark geschwächten Patienten Kalomel in zehnfacher Überdosis verabreicht. Kalomel, ein Quecksilberchlorid, war ein sehr gebräuchliches Allheilmittel, auch gegen Verstopfung. Sehr harmlos, aber in Verbindung mit Blausäure tödlich. In jenen Tagen stand neben Napoleons Bett ständig ein Glas mit Mandelmilch . . . Napoleons Arzt sprach sich dagegen aus, ihm Kalomel zu geben. Er wurde überstimmt, von Montholon!
Der Mörder wollte auf Nummer sicher gehen – ans Geld kommen, unentdeckt bleiben. Haben Sie schon einmal daran gedacht, einen Kriminalroman über Napoleons letzte Jahre auf St. Helena zu schreiben?
Was da tatsächlich stattgefunden hat, ist viel besser als jeder Roman.