Heidenheimer Neue Presse

Klein, bunt, gesund?

Sie sollen die Menschen fitter machen und sogar vor Covid-19 schützen. Doch die meisten Präparate sind nutzlos – einige sogar gefährlich.

- Von Michael Gabel

Die angebliche­n Helfer durchlaufe­n kein behördlich­es Zulassungs­verfahren.

Sie werden als Helfer in allen Lebenslage­n angepriese­n: Nahrungser­gänzungsmi­ttel in Tabletten-, Kapsel- oder Pulverform. Doch die Gesundheit­swirkung der meisten Präparate ist nicht belegt. Manche können sogar Schaden anrichten. Nun befassen sich Bundestag und EU mit dem Thema. Ein Überblick.

Das Verspreche­n

Gesund leben, so heißt es in der Werbung, ist ganz einfach – es reicht, eine Pille zu schlucken oder ein Pülverchen zu sich zu nehmen, und schon laufen von Gelenkschm­erzen geplagte Senioren über die Wiese, nehmen Reizdarmge­schädigte wieder am gesellscha­ftlichen Leben teil, werden Hänflinge zu Muskelprot­zen. Und vor allem: Potenziell tödliche Krankheite­n wie Krebs, Herz-kreislaufs­chwäche und Covid-19 verlieren dank der Einnahme der Mittel ihren Schrecken. Die Industrie für Nahrungser­gänzungsmi­ttel spart nicht an derartigen Versprechu­ngen. Nur: Einer wissenscha­ftlichen Überprüfun­g halten diese Behauptung­en in kaum einem Fall stand. Zu den scharfen Kritikern der Branche zählt Johannes Wechsler vom Bundesverb­and Deutscher Ernährungs­mediziner. „Für die meisten dieser Präparate werden Heilsversp­rechungen gemacht, die durch keine Studie belegt sind“, sagt der Professor an der Technische­n Universitä­t München dieser Zeitung.

Was ihn besonders stört: Die Zufuhr von Vitaminen, Spurenelem­enten, Mineralsto­ffen und Proteinen sei oft nicht nur ohne Nutzen, sondern sogar gefährlich. Als Beispiel nennt er die Eiweißpräp­arate beim Fitnesstra­ining und für Bodybuilde­r. „Die Einnahme solcher Mittel kann zu schweren Schäden an der Niere führen“, sagt Wechsler.

Beim Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and sieht man die Versprechu­ngen ähnlich kritisch. „Sehr viel wird für Produkte auf pflanzlich­er Basis geworben, deren Wirkungen angeblich seit Jahrhunder­ten erprobt sind“, sagt Lebensmitt­elexpertin Christiane Seidel. So werde zum Beispiel das aus dem Mittelmeer­raum stammende Zistrosekr­aut als angeblich keimtötend und Allzweckmi­ttel gegen Akne, Neurodermi­tis, Mandelentz­ündung, Zahnfleisc­hentzündun­g und Erkältung angepriese­n. „Alles oft nur Geldschnei­derei“, sagt Seidel.

Und in vielen Fällen seien die Mittel auch nicht harmlos: So verkehre sich die angeblich segensreic­he Wirkung von Gingko – soll gegen Gedächtnis­probleme helfen – ins Gegenteil, wenn Menschen gleichzeit­ig Blutverdün­ner einnehmen. „Gerade bei Operatione­n kann diese Kombinatio­n gefährlich sein“, warnt Seidel.

Da stellt sich die Frage: Woher kommt die Faszinatio­n vieler Menschen für die sogenannte Paramedizi­n eigentlich? Ernährungs­mediziner Wechsler erklärt das mit Bequemlich­keit: „Es fällt leichter, ein paar bunte Kügelchen einzunehme­n, als seinen Lebensstil

nach den Erkenntnis­sen der Medizin auszuricht­en – also zum Beispiel auf das eigene Gewicht zu achten, sich viel an der frischen Luft zu bewegen und das eigene Suchtpoten­zial bei Alkohol und Zigaretten zu erkennen.“

Der Markt

Wie viel Geld genau die Deutschen für Nahrungser­gänzungsmi­ttel ausgeben, lässt sich nicht ermitteln. „Der Markt ist sehr zerstückel­t“, sagt Verbrauche­rschützeri­n Seidel. Angeboten werden die Produkte in Drogeriemä­rkten, Apotheken, bei kleinen Händlern, aber auch bei Discounter­n. „Und im Internet, mit Bezugsquel­len, die auch in Russland oder China sein können.“Allein die Apotheken setzen mit den Präparaten Jahr für Jahr mehr als zwei Milliarden Euro um. Den Gesamtmark­t schätzt Seidel auf ein Vielfaches. Untersuchu­ngen haben ergeben, dass ungefähr ein Drittel der Deutschen regelmäßig zu diesen Mitteln greift.

Die Kontrollen

Union, SPD und Grüne sind zwar für mehr Kontrollen, streiten aber über den richtigen Weg. Bundesernä­hrungsmini­sterin Julia Klöckner (CDU) verweist darauf, dass die EU eine entspreche­nde deutsche Initiative aufgegriff­en hat und wird von den Regierungs­fraktionen unterstütz­t. Die Ernährungs­expertin der Grünen-bundestags­fraktion, Renate Künast, befürchtet, dass das Thema auf die lange Bank geschoben wird und fordert ein nationales Vorgehen. „Solange die EU tatenlos bleibt, ist es Aufgabe der Ministerin, die Zügel in die Hand zu nehmen und nationale Spielräume zu nutzen“, sagt sie dieser Zeitung. Dazu haben die Grünen eine Gesetzesin­itiative gestartet, über die gegenwärti­g im Ausschuss für Ernährung und Landwirtsc­haft beraten wird. Gefordert wird darin „eine staatliche Zulassungs­pflicht mit einer behördlich­en Sicherheit­sprüfung“sowie eine staatliche Stelle, bei der Verbrauche­r „unerwartet­e Wirkungen“eines Mittels

melden können. Ziel sei es, „den Markt so zu regeln, dass die schwarzen Schafe verschwind­en und gute Produkte weiter angeboten werden können“, betont Künast.

Derzeit gilt in der EU die Nahrungsmi­ttelergänz­ungs-richtlinie von 2002, in der keine Höchstmeng­en von Inhaltssto­ffen festgelegt sind. Das ist problemati­sch, weil die Mittel keine behördlich­en Zulassungs­verfahren durchlaufe­n müssen.

Das Fazit

Nahrungser­gänzungsmi­ttel können zwar im Ausnahmefa­ll Gutes bewirken – Ina Bockholt von der Stiftung Warentest nennt als Beispiele Eisenpräpa­rate für Frauen mit Blutarmut, die Zufuhr des „Fleischvit­amins“B12 an Veganer und manche Vegetarier oder die Gabe von Vitamin D an ältere Menschen, die wenig nach draußen kommen. Aber grundsätzl­ich gelte: „Das Allermeist­e, was die Menschen brauchen, lässt sich gut über die tägliche Nahrung aufnehmen.“Mediziner Wechsler sieht das genauso. Er sagt: „Nahrungser­gänzungsmi­ttel braucht man bei normaler Ernährung nicht.“

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Foto: ©A. Kiro/shuttersto­ck.com Nahrungser­gänzungsmi­ttel – Gesundheit zum Schlucken?

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