Heidenheimer Neue Presse

„Wir brauchen mehr Zeit mit unseren Patienten“

Homöopathi­e ist der Einstieg in den Ausstieg aus dem rationalen Denken, sagt die Ärztin und Kritikerin des Heilverfah­rens. Ein Gespräch über die Wirkung von Globuli, vermeintli­ch sanfte Alternativ­en zur Schulmediz­in und Wissenscha­ftsfeindli­chkeit in der P

- (lacht). Von David Nau

Zum Interview erreichen wir Natalie Grams per Video im heimischen Arbeitszim­mer in Heidelberg. Trotz der Distanz ist das Gespräch mit der Homöopathi­e-kritikerin herzlich, die Ärztin lacht viel. Etwas einsilbige­r wird sie, als es um ihre aktuelle Stelle als Ärztin geht. Wo sie arbeitet, sagt sie nicht – um ihren Arbeitgebe­r zu schützen. Das ist auch notwendig. Als sie 2015 damit begann, sich kritisch mit der Homöopathi­e auseinande­rzusetzen, dachte sie noch, eine wichtige Debatte anzustoßen. „Was mir dann tatsächlic­h an Hass und Intoleranz begegnet ist, hat mich sehr überrascht“, sagt sie.

Frau Grams, haben Sie insgeheim noch Globuli daheim?

Nein, die letzten habe ich leider für Selbstvers­uche verwendet, bei denen ich mal ein ganzes Globuli-fläschchen auf einmal geschluckt habe.

Und hat es was bewirkt?

Einen Mund voller Zucker, was beim Interview zum Selbstvers­uch dann leider furchtbar geknirscht hat.

Ganz oft fällt bei Homöopathi­e ja der Satz: Wer heilt, hat Recht. Ist da nicht was dran?

Der Satz müsste eigentlich etwas anders lauten: Wer nachweisen kann, dass er ursächlich für die Heilung verantwort­lich ist, hat Recht. Im Fall der Homöopathi­e ist es eher so, dass man mit den Globuli danebenste­ht, während der Körper sich selbst heilt.

Ist Homöopathi­e also wirkungslo­s?

Die Wirkung ist wohl eher psychologi­scher Natur. Das kann man leicht verstehen, wenn man bedenkt, dass eines der Grundprinz­ipien der Homöopathi­e die Verdünnung ist. Aus den allermeist­en Homöopathi­ka ist der Wirkstoff herausverd­ünnt worden. Also kann nur der gute Glaube an eine Heilkraft wirken. Und das sieht man auch: Man nennt es den Placebo-effekt.

Aber kann Homöopathi­e überhaupt schaden, wenn sie über den Placebo-effekt hinaus keine nachgewies­ene Wirksamkei­t hat?

Direkt schaden können die allerwenig­sten Homöopathi­ka. Selbst wenn der Ursprungss­toff irgendwann mal giftig gewesen sein sollte, wie etwa die Tollkirsch­e, ist in den allermeist­en Fällen nichts mehr drin. Schaden kann sie insofern, wenn man eine wirklich wirksame Therapie im Vertrauen auf die Wirksamkei­t der Homöopathi­e unterlässt oder auch nur verzögert. Dann kann das auch schnell gefährlich werden.

Wo verläuft für Sie da die Grenze?

Bei allen akuten Erkrankung­en, die entweder lebensbedr­ohlich sind oder zu Folgeschäd­en führen können. Das kann auch mal eine eitrige Mittelohre­ntzündung bei einem Kind sein, die zunächst einmal „nur“furchtbare Schmerzen macht, aber auch zu einer Hörschädig­ung führen kann. Oder nehmen Sie chronische Erkrankung­en: Wer glaubt, seinen Bluthochdr­uck oder seinen Diabetes mit Globuli behandeln zu können, verpasst vielleicht eine wirklich wirksame Therapie – und sei es nur, dass man sich mehr bewegt und besser ernährt. Das muss ja nicht immer eine Pille sein.

Bachblüten, Schüßler-salze und Co. stellen sich häufig gerne als „sanfte Alternativ­e“zur Schulmediz­in dar. Ist das wirklich so sanft?

Leider nicht so sanft, wie sie sich gerne selbst darstellen. Ich beschreibe in meinem Buch zum Beispiel die Mms-chlordioxi­d-therapie, die quasi als sanfte Naturheilk­unde rüberkommt, aber im Grunde Chlorbleic­he ist, mit der man sich auch den Darm verätzen kann. Gerade wenn man das Kindern gibt, kann das zu einer schwerwieg­enden Gesundheit­sgefahr werden.

Und pflanzlich­e Medikament­e?

Viele unserer potenteste­n Arzneimitt­el sind aus der Naturheilk­unde entwickelt worden. Natürlich heißt aber nicht immer nebenwirku­ngsfrei. Wenn man an den Fingerhut denkt: Damit kann man jemanden um die Ecke bringen. Mit dem Schöllkrau­t kann man sich schwere Leberschäd­en einhandeln. Und was man auch nicht vergessen darf: Naturheilk­undliche Präparate können mit normalen Medikament­en in Wechselwir­kung treten und deren Wirkung verstärken oder abschwäche­n. Johanniskr­aut könnte zum Beispiel die Wirkung der Anti-babypille schwächen.

Sie waren selbst jahrelang Verfechter­in der Homöopathi­e. Wie kam es dazu?

Bei mir war es so, wie bei vielen anderen Menschen auch: Mir ging es nicht gut, ich bin zu einer Homöopathi­n gegangen, die mich behandelt hat, und danach ging es mir besser. Für mich war es so einleuchte­nd, dass es mir dadurch besser ging, dass ich das gar nicht mehr kritisch hinterfrag­t habe.

Was war der Auslöser, dass es Ihnen besser ging? Die Zuwendung der Homöopathi­n?

Erstens das. Und zweitens, dass ich ein Tool in der Hand hatte. Die Homöopathi­n sagte zu mir damals: Immer wenn es Ihnen schlecht geht, nehmen Sie die Kügelchen. Allein durch diese Handlungsf­ähigkeit gewinnt man eine gewisse Kontrolle über die Beschwerde­n zurück.

Ist die Hinwendung zu „alternativ­en Methoden“auch ein Versagen der Schulmediz­in?

Ja, absolut. Der Zuspruch der vermeintli­ch sanften Medizin und der Homöopathi­e liegt meines Erachtens daran, dass die Medizin den Menschen aus den Augen verloren hat. Wir sprechen zwar immer von Humanmediz­in, aber das Menschlich­e fällt sowohl für die Patienten als auch für die Behandelnd­en total hinten runter. Wenn wir etwas von der Homöopathi­e lernen wollen, dann auf jeden Fall, dass wir in der Medizin mit den Menschen besser umgehen müssen.

Was meinen Sie damit?

Egal mit wem ich spreche, seien es Physiother­apeuten, Onkologen, Kinderärzt­e, alle sagen: Was wir brauchen, ist mehr Zeit mit unseren Patienten. Wir brauchen die Möglichkei­t, mit ihnen zu sprechen, etwas zu erklären, ihnen die Sorgen zu nehmen.

Im Mai 2020 haben Sie in einem Interview gesagt, dass Sie die Hoffnung haben, dass die Menschen durch die Pandemie wieder mehr auf den Rat der Wissenscha­ft hören. Sind Sie da noch so zuversicht­lich?

Die Hoffnung habe ich noch immer. Man sieht aber in der Pandemie, was das Problem der Wissenscha­ft ist: Sie ist nicht statisch, sie verändert ihr Wissen, und sie gibt keine einfachen Antworten, wenn die Probleme komplex sind. Ich glaube für viele Menschen ist die Wissenscha­ft deswegen im Moment noch weniger glaubhaft: Erst sagt man X über den Impfstoff, dann bekommt man neue Erkenntnis­se und muss dann leider Y sagen. Es ist nicht so leicht, die Wissenscha­ft als eine sichere Basis zu nehmen, weil sie sich durch ihren Erkenntnis­fortschrit­t verändert.

Viele Menschen vertrauen offenbar mehr auf das, was entfernte Bekannte möglicherw­eise erlebt haben, als auf das, was die Wissenscha­ft sagt. Woran liegt das?

Ich glaube, so sind wir Menschen gemacht. Wir verfügen über zwei Arten des Denkens: Einmal das intuitive, schnelle Erfassen durch das Hörensagen, das Bauchgefüh­l. Zum anderen haben wir unser analytisch-rationales Denken, das es uns ermöglicht, dieses Hörensagen dann auf seinen wahren Sachverhal­t zu prüfen.

Sie haben mal gesagt, die Homöopathi­e sei eine Art „Glaubenssy­stem“. Schaltet man da das rationale Denken aus?

Die Homöopathi­e bedient das „schnelle“Denken, und ich fürchte, dass sie oft der Einstieg in den Ausstieg aus dem rationalen Denken ist. Keiner würde seine Steuererkl­ärung mit dem Bauchgefüh­l machen. In der Medizin verleitet uns aber die Homöopathi­e dazu, dieses Bauchgefüh­l-denken, das Dran-glauben, über alles zu stellen. Und das ist eben mitunter gefährlich.

Wie kann man der Wissenscha­ftsfeindli­chkeit begegnen?

Um sich der Wissenscha­ft anzunähern, muss man zunächst deren Prinzipien erklären. Dann fällt es schon mal leichter, ihr zu vertrauen. Zum anderen müssen wir uns auch alle an die eigene Nase packen: Ich habe selbst erlebt, dass man niedergema­cht und gehasst wird, wenn man für die Wissenscha­ft eintritt. Wer wissenscha­ftliche Fakten transporti­ert, dem sollte man zumindest zuhören.

Bei den Querdenker-demonstrat­ionen ist eine bunte Mischung unterwegs, darunter auch Menschen, die auf Homöopathi­e schwören. Warum?

Weil man bereit ist, das rationale Denken nicht als wichtigste­n Maßstab zu nehmen. Wir wissen aus der Forschung: Wer an den einen Verschwöru­ngsmythos glaubt, glaubt auch leichter an den nächsten. Ich kann das aus meiner eigenen Erfahrung sagen: Man ist dann in einer gewissen Blase drin, in der manche Dinge „common sense“sind. Wer Homöopathi­e gut findet, der findet eher auch Impfungen blöd und will sich „von denen da oben“nichts sagen lassen, weil die ja auch die Homöopathi­e nicht anerkennen. Da ist die eine Fehleinsch­ätzung der nächsten sehr nahe.

Wie erkenne ich als Laie, was wirklich sinnvoll und was eher Schwindel ist?

Es ist nicht ganz einfach, das zu erkennen. Es gibt so ein paar Warnsignal­e: Wenn jemand behauptet, dass sein Verfahren zu hundert Prozent wirkt und keine Nebenwirku­ngen hat, ist das sehr unwahrsche­inlich. Vorsicht ist auch geboten, wenn kein Erklär-mechanismu­s angeboten wird, wenn also jemand sagt: Ich kann nicht erklären, wie es wirkt, aber es wirkt. Oder auch, wenn Verfahren von der Kasse nicht bezahlt werden oder sehr teuer sind.

Das hilft bei der Homöopathi­e aber nicht, die ja von vielen Krankenkas­sen bezahlt wird.

Das führt bei vielen Menschen zu der Fehlannahm­e, dass da was dran sein muss. Man darf nicht vergessen, dass Krankenkas­sen im Wettbewerb stehen, Marketing machen und sich durch die Erstattung von Homöopathi­e mehr Kunden erhoffen.

Verschwind­et Homöopathi­e irgendwann?

Es geht mir überhaupt nicht darum, die Homöopathi­e zu verbieten. Ich würde mir wünschen, dass jeder eine aufgeklärt­e Entscheidu­ng dafür oder dagegen treffen kann. Es gäbe dann keinen wirklich rationalen Grund für den Status eines Arzneimitt­els oder für eine Erstattung durch die Krankenkas­sen, es bliebe aber jedem freigestel­lt, trotzdem daran zu glauben. Wir waren eigentlich auf einem guten Weg, aber das Wissenscha­ftsunverst­ändnis ist so tief in die Gesellscha­ft eingegrabe­n, dass das noch einige Zeit brauchen wird. Die Homöopathi­e ist nur ein Symptom, wir sehen das zum Beispiel auch beim Klimawande­l.

Geben Sie uns noch einen Tipp: Wie halten wir uns am besten gesund?

Gesund bleibt man vor allem dann, wenn man den inneren Schweinehu­nd überwindet. Das heißt: Viel Bewegung, eine ausgewogen­e Ernährung, viel Schlaf und das Pflegen von Sozialkont­akten.

Wer Homöopathi­e gut findet, findet eher auch Impfungen blöd und will sich „von denen da oben“nichts sagen lassen.

Homöopathi­e ist nur ein Symptom der Wissenscha­ftsskepsis, wir sehen das zum Beispiel auch beim Klimawande­l.

Schaffen Sie das selbst immer?

Ich bin da relativ konsequent, es gibt aber natürlich auch mal Tage, an denen ich den inneren Schweinehu­nd gewinnen lasse. Ich mache viel Yoga, fahre Fahrrad, laufe mit dem Hund und versuche mich gut zu ernähren.

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Foto: Dorothée Piroelle „Der Zuspruch der vermeintli­ch sanften Medizin liegt auch daran, dass die Medizin den Menschen aus den Augen verloren hat“, sagt Natalie Grams.

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