Schrittweise Richtung Normalität
Das Beispiel des Heidenheimer Pflegeheims zeigt, wie Corona den Alltag auf den Kopf stellte, und wie das Impfen die Situation mittlerweile zunehmend entspannt.
Renate Oettinger lebt seit sieben Jahren im Pflegeheim St. Franziskus der Stiftung Haus Lindenhof. Unter vielen Tagen sticht der 13. März 2020 heraus: „Wegen Corona galten für uns auf einmal Quarantäneregeln“, erinnert sich die 84-Jährige. Zeitweise durften die Bewohner ihre Zimmer nicht mehr verlassen und keinen Besuch empfangen, auch beim Essen blieben sie alleine.
„Wir waren natürlich sehr unzufrieden damit, am schlimmsten war aber, dass wir nicht zum Friseur konnten“, flüchtet sich Oettinger, die dem Heimbeirat angehört, in Humor.
Die erste Welle der Pandemie erwischte auch das Personal kalt. Abgesehen davon, dass besonders in der Pflege und in der Verteilerküche die Arbeit mit einer Ffp2-maske sehr beschwerlich sei, sagt die hauswirtschaftliche Leiterin Sarah Jörg, habe vor allem anfangs ein weiterer Umstand für Stress gesorgt: „Manchmal gab es zwei oder drei neue Weisungen an einem einzigen Tag, und wenn morgens eine aktualisierte Information auf dem Tisch lag, musste sie sofort im ganzen Haus umgesetzt werden.“
Dazu gehörten Schulungen ebenso wie Aushänge in den Wohnbereichen, außerdem waren die Angehörigen zu informieren. Hinzu kam die anfängliche Knappheit bei Masken und Schutzkitteln, ergänzt Clemens Wochner-luikh, der bei der Stiftung Haus Lindenhof den Wohnverbund Heidenheim/göppingen leitet.
22 Bewohner infizierten sich
Die Lage entspannte sich erst im Frühsommer, nachdem es dem zentralen Einkauf der Stiftung gelungen war, Ausrüstung in ausreichender Menge zu beschaffen. Alle Hygienemaßnahmen vermochten freilich nicht zu verhindern, dass das Heim von der zweiten Welle nicht verschont blieb. Mehrere Beschäftigte erkrankten, hinzu kamen 22 Infektionen unter den Bewohnern. Außerdem war eine Tote zu beklagen, allerdings ist laut Wochner-luikh unklar, „ob diese Frau mit oder an Corona gestorben ist“.
Als die Lage besonders schwierig war, wurde ein isolierter Bereich geschaffen. Um ihn betreten oder verlassen zu dürfen, mussten sich die Mitarbeiter jedes Mal komplett umziehen.
Damit Stress und Risiko möglichst gering gehalten wurden, galt in Absprache mit dem Gesundheitsamt ein zweimonatiger Aufnahmestopp. Darüber hinaus setzten die Verantwortlichen Personal von Leasingfirmen ein, um Ausfälle in der hauseigenen Belegschaft auszugleichen und einer drohenden Überlastung vorzubeugen. Veranstaltungen durfte es weiterhin nicht geben – keine Konzerte, keine Gymnastik, kein Sommerfest, kein Kaffeenachmittag. Die Corona-verordnung ließ der Einrichtung somit keine Chance, ihrem Slogan gerecht zu werden: selbstbestimmt leben.
Geburtstagsständchen im Hof
Also war Einfallsreichtum gefragt, und gezwungenermaßen entwickelte sich der Hof zum Schauplatz für Auftritte des Posaunenchors, für Geburtstagsständchen, für Besuche. Und wenn Clowns vor den Fenstern ihre Späße trieben, „blühten auch unsere dementen Bewohner richtig auf“, schaut Jörg zurück.
„Ein großer Lichtblick war dann, dass es einen Impfstoff gibt“, berichtet Renate Oettinger aus der Warte der 83 Bewohner. Zwei Drittel von ihnen haben sich mittlerweile impfen lassen, und nach anfänglicher Verhaltenheit nimmt die Zahl auch bei den Mitarbeitern laufend zu.
Noch ist es ein Stück hin bis zur angepeilten Impfquote von 90 Prozent, die einen weitreichenden Schutz für die Gemeinschaft bieten und damit auch eine umfassende Öffnung des Pflegeheims ermöglichen würde. Betreuungsassistentin Christine Rapp zeigt sich aber erleichtert darüber, dass jetzt zumindest wieder Aktivitäten auf den einzelnen Stockwerken möglich sind und dort unter anderem Gottesdienste mit Pfarrern stattfinden können.
Wahlweise kann nun im Speisesaal oder auf der jeweiligen Etage gegessen werden. Im Herbst soll es auch wieder kulturelle
Veranstaltungen in der hauseigenen Kapelle geben, das Programm dafür steht schon. Ein großer Schritt in Richtung Normalität ist es auch, das Haus wieder verlassen zu können.
Jeder Bewohner und jede Bewohnerin darf bis zu zwei Besucher am Tag empfangen. Bedingung: Im gesamten Haus müssen Ffp2-masken getragen und die Hände desinfiziert werden, außerdem ist ein negativer Coronatest vorzuweisen. Gäste haben dazu vor Ort an drei festen Terminen in der Woche Gelegenheit. Die Mitarbeiter werden dreimal wöchentlich getestet, die Bewohner einmal sowie bei Verdacht auf eine Infektion.
Eines haben die zurückliegenden Monate gezeigt: „Wir können uns aufeinander verlassen, sind ein Team“, sagt Sarah Jörg. Christine Rapp ergänzt, die Arbeit sei intensiver und schwieriger geworden, „aber wir sind gleichzeitig zusammengerückt“. Das gelte für den Kontakt zu den Pflegekräften wie zu den Besuchern gleichermaßen.
In wenigen Tagen wird Renate Oettinger 85. Eine große Kaffeetafel ist dann noch nicht wieder möglich, aber sie gibt die Hoffnung nicht auf, „dass ich nächstes Jahr wieder mit meinen Freunden zusammen hier feiern darf. Deshalb sage ich allen immer wieder: Denkt positiv, bleibt negativ“.