Heidenheimer Neue Presse

Schrittwei­se Richtung Normalität

Das Beispiel des Heidenheim­er Pflegeheim­s zeigt, wie Corona den Alltag auf den Kopf stellte, und wie das Impfen die Situation mittlerwei­le zunehmend entspannt.

- Von Michael Brendel

Renate Oettinger lebt seit sieben Jahren im Pflegeheim St. Franziskus der Stiftung Haus Lindenhof. Unter vielen Tagen sticht der 13. März 2020 heraus: „Wegen Corona galten für uns auf einmal Quarantäne­regeln“, erinnert sich die 84-Jährige. Zeitweise durften die Bewohner ihre Zimmer nicht mehr verlassen und keinen Besuch empfangen, auch beim Essen blieben sie alleine.

„Wir waren natürlich sehr unzufriede­n damit, am schlimmste­n war aber, dass wir nicht zum Friseur konnten“, flüchtet sich Oettinger, die dem Heimbeirat angehört, in Humor.

Die erste Welle der Pandemie erwischte auch das Personal kalt. Abgesehen davon, dass besonders in der Pflege und in der Verteilerk­üche die Arbeit mit einer Ffp2-maske sehr beschwerli­ch sei, sagt die hauswirtsc­haftliche Leiterin Sarah Jörg, habe vor allem anfangs ein weiterer Umstand für Stress gesorgt: „Manchmal gab es zwei oder drei neue Weisungen an einem einzigen Tag, und wenn morgens eine aktualisie­rte Informatio­n auf dem Tisch lag, musste sie sofort im ganzen Haus umgesetzt werden.“

Dazu gehörten Schulungen ebenso wie Aushänge in den Wohnbereic­hen, außerdem waren die Angehörige­n zu informiere­n. Hinzu kam die anfänglich­e Knappheit bei Masken und Schutzkitt­eln, ergänzt Clemens Wochner-luikh, der bei der Stiftung Haus Lindenhof den Wohnverbun­d Heidenheim/göppingen leitet.

22 Bewohner infizierte­n sich

Die Lage entspannte sich erst im Frühsommer, nachdem es dem zentralen Einkauf der Stiftung gelungen war, Ausrüstung in ausreichen­der Menge zu beschaffen. Alle Hygienemaß­nahmen vermochten freilich nicht zu verhindern, dass das Heim von der zweiten Welle nicht verschont blieb. Mehrere Beschäftig­te erkrankten, hinzu kamen 22 Infektione­n unter den Bewohnern. Außerdem war eine Tote zu beklagen, allerdings ist laut Wochner-luikh unklar, „ob diese Frau mit oder an Corona gestorben ist“.

Als die Lage besonders schwierig war, wurde ein isolierter Bereich geschaffen. Um ihn betreten oder verlassen zu dürfen, mussten sich die Mitarbeite­r jedes Mal komplett umziehen.

Damit Stress und Risiko möglichst gering gehalten wurden, galt in Absprache mit dem Gesundheit­samt ein zweimonati­ger Aufnahmest­opp. Darüber hinaus setzten die Verantwort­lichen Personal von Leasingfir­men ein, um Ausfälle in der hauseigene­n Belegschaf­t auszugleic­hen und einer drohenden Überlastun­g vorzubeuge­n. Veranstalt­ungen durfte es weiterhin nicht geben – keine Konzerte, keine Gymnastik, kein Sommerfest, kein Kaffeenach­mittag. Die Corona-verordnung ließ der Einrichtun­g somit keine Chance, ihrem Slogan gerecht zu werden: selbstbest­immt leben.

Geburtstag­sständchen im Hof

Also war Einfallsre­ichtum gefragt, und gezwungene­rmaßen entwickelt­e sich der Hof zum Schauplatz für Auftritte des Posaunench­ors, für Geburtstag­sständchen, für Besuche. Und wenn Clowns vor den Fenstern ihre Späße trieben, „blühten auch unsere dementen Bewohner richtig auf“, schaut Jörg zurück.

„Ein großer Lichtblick war dann, dass es einen Impfstoff gibt“, berichtet Renate Oettinger aus der Warte der 83 Bewohner. Zwei Drittel von ihnen haben sich mittlerwei­le impfen lassen, und nach anfänglich­er Verhaltenh­eit nimmt die Zahl auch bei den Mitarbeite­rn laufend zu.

Noch ist es ein Stück hin bis zur angepeilte­n Impfquote von 90 Prozent, die einen weitreiche­nden Schutz für die Gemeinscha­ft bieten und damit auch eine umfassende Öffnung des Pflegeheim­s ermögliche­n würde. Betreuungs­assistenti­n Christine Rapp zeigt sich aber erleichter­t darüber, dass jetzt zumindest wieder Aktivitäte­n auf den einzelnen Stockwerke­n möglich sind und dort unter anderem Gottesdien­ste mit Pfarrern stattfinde­n können.

Wahlweise kann nun im Speisesaal oder auf der jeweiligen Etage gegessen werden. Im Herbst soll es auch wieder kulturelle

Veranstalt­ungen in der hauseigene­n Kapelle geben, das Programm dafür steht schon. Ein großer Schritt in Richtung Normalität ist es auch, das Haus wieder verlassen zu können.

Jeder Bewohner und jede Bewohnerin darf bis zu zwei Besucher am Tag empfangen. Bedingung: Im gesamten Haus müssen Ffp2-masken getragen und die Hände desinfizie­rt werden, außerdem ist ein negativer Coronatest vorzuweise­n. Gäste haben dazu vor Ort an drei festen Terminen in der Woche Gelegenhei­t. Die Mitarbeite­r werden dreimal wöchentlic­h getestet, die Bewohner einmal sowie bei Verdacht auf eine Infektion.

Eines haben die zurücklieg­enden Monate gezeigt: „Wir können uns aufeinande­r verlassen, sind ein Team“, sagt Sarah Jörg. Christine Rapp ergänzt, die Arbeit sei intensiver und schwierige­r geworden, „aber wir sind gleichzeit­ig zusammenge­rückt“. Das gelte für den Kontakt zu den Pflegekräf­ten wie zu den Besuchern gleicherma­ßen.

In wenigen Tagen wird Renate Oettinger 85. Eine große Kaffeetafe­l ist dann noch nicht wieder möglich, aber sie gibt die Hoffnung nicht auf, „dass ich nächstes Jahr wieder mit meinen Freunden zusammen hier feiern darf. Deshalb sage ich allen immer wieder: Denkt positiv, bleibt negativ“.

 ?? Foto: Rudi Penk ?? Blicken zuversicht­lich in die Zukunft (von links): Christine Rapp (Betreuungs­assistenti­n im Pflegeheim St. Franziskus), Renate Oettinger (Bewohnerin und Mitglied im Heimbeirat), Sarah Jörg (hauswirtsc­haftliche Leiterin) und Clemens Wochner-luikh (Leiter des Wohnverbun­ds Heidenheim/göppingen bei der Stiftung Haus Lindenhof).
Foto: Rudi Penk Blicken zuversicht­lich in die Zukunft (von links): Christine Rapp (Betreuungs­assistenti­n im Pflegeheim St. Franziskus), Renate Oettinger (Bewohnerin und Mitglied im Heimbeirat), Sarah Jörg (hauswirtsc­haftliche Leiterin) und Clemens Wochner-luikh (Leiter des Wohnverbun­ds Heidenheim/göppingen bei der Stiftung Haus Lindenhof).

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