Das Medium der Krise
Kann man Corona noch neue Perspektiven abgewinnen? Man kann – das beweisen derzeit Produktionen beim Internationalen Trickfilm-festival Stuttgart.
Ein Mann, der sich ein Iglu aus Toilettenpapier baut. Menschenleere Plätze. Manche Bilder, die uns Trickfilme wie „Quarantine“und „Lost Places“präsentieren, scheinen wir bereits bis zum Überdruss aus unserem eigenen Alltag zu kennen. Und doch lohnt es, sich auf die „Pandemic Animation“einzulassen. Das 28. Internationale Trickfilm-festival Stuttgart (ITFS) findet derzeit zum zweiten Mal wegen Corona online statt – und unter den hunderten Filmen im Streamingangebot finden sich auch Werke, die das Thema Corona verarbeiten.
Warum Animation das visuelle Medium der Stunde ist, erklärt der spanische Filmemacher Alex Rey: „Kino ist die beste Erfindung der Menschheit. Aber Animation ist noch besser, weil wir Dinge können, die das Kino nicht kann.“Seinen Science-fiction-kurzfilm „La increíble vacuna del Dr. Dickinson“(„Der unglaubliche Impfstoff des Dr. Dickinson“) habe er alleine fertiggestellt, ohne das Haus zu verlassen – beeindruckende Landschaften und Raumschiffe inklusive.
Welten aus eigener Hand erschaffen: Das können Autoren auch. Von Juli Zehs „Über Menschen“
abgesehen, hat sich Corona bisher nicht als Stoff für Bestseller erwiesen. Viele Menschen sehnen sich eher nach Eskapismus, zumal die meisten Gegenwartsromane aufgrund der zeitlichen Nähe zur Krise ohnehin kaum neue Erkenntnisse bieten.
Animationsfilme bieten da noch einen Vorteil: Es gehört zu ihren Kompetenzen, sich belastenden Themen mit Leichtigkeit zu nähern. Gerade weil man von den meist kurzen Filmen keine umfassende Gesellschaftsanalyse erwartet und dank ihrer visuellen Möglichkeiten können sie den Zuschauer mit unerwarteten Perspektiven und oft humorvollen Einsichten überraschen.
In Reys knapp 15-minütiger Satire kämpfen die Menschen im Jahr 2024 immer noch gegen das Coronavirus. Bis ein Molekularbiologe mit dem geradezu prophetischen Namen Dr. Dickinson endlich einen Impfstoff entdeckt. Der Haken: Das Vakzin lässt jedem Geimpften einen Penis auf der Stirn wachsen. Entgegen der Warnung des Erfinders wird das Mittel eingesetzt – es gilt schließlich, den Kapitalismus zu retten. Dickinson wird erst als Held gefeiert, dann verteufelt und von Impfgegnern ins All geschossen.
Die Frage „Welchen Preis würden wir zahlen, um unser Leben zurückzubekommen?“liege seinem Film zugrunde, sagt Rey. Nebenbei
macht der Film sich herrlich über Wissenschaftsfeindlichkeit und das Patriarchat lustig.
Statt seinen Figuren Masken über das Gesicht zu ziehen, lässt
Alexander Fischer von der Filmakademie Baden-württemberg Bäuche sprechen: Im ungewöhnlichen Animationsfilm „Anatomie eines Weltverständnisses“erweckt der Filmemacher „Hüftgold“zum Leben. Eine Debatte um eine zu Tode gepflegte Orchidee zwischen den Nachbarn Herr Wamperl und Herr Bäuchle eskaliert in eine aberwitzige Verschwörungstheorie um die Machenschaften von Blumenhändlern.
Animation kann nicht nur den Fokus auf kleine Kuriositäten unserer Gegenwart richten, sondern auch den Blick weiten. Dem kanadischen Zeichentrickfilm „Right Now” genügt etwas mehr als eine Minute, um uns daran zu erinnern, was wir aus der globalen Pandemie gelernt haben sollten, nämlich „dass wir alle gemeinsam darin stecken“, wie es in der Zusammenfassung heißt.
Melancholisch-schön, wie der Titel „Sad Beauty“verspricht, nähert sich der Niederländer Arjan Brentjes dem Thema Bakterien. Sein bereits vor Corona animierter Kurzfilm dreht sich um eine Frau, die in einer verschmutzten und von Seuchen geplagten Welt im Naturkundemuseum ausgestorbene Arten zeichnet. Als sie selbst erkrankt und halluziniert, scheint die Natur mit ihr zu kommunizieren. Die hoffnungsvolle Botschaft: Da Menschen und Tiere zu einem Großteil aus Bakterien und anderen Mikroorganismen bestehen, stirbt das Leben nicht. Es verändert nur die Form.
Welchen Preis würden wir zahlen, um unser Leben zurückzubekommen? Alex Rey Filmemacher