Heidenheimer Neue Presse

Bitte kein Impfneid!

- André Bochow leitartike­l@swp.de

zur Debatte um Impfdrängl­er

Was sagen sich Menschen in diesen Tagen als erstes, wenn Sie sich ein Weilchen nicht gesehen haben? Klar, irgendeine Begrüßungs­formel wird schon noch gemurmelt. Aber der nächste Satz ist mit einiger Sicherheit: Na, schon geimpft? In immer mehr Fällen lautet nun die Antwort: Ja. Ein Drittel aller Deutschen hat eine Erstimpfun­g, fast jeder Zehnte hat einen vollständi­gen Impfschutz.

Doch beim Herumfrage­n im Bekanntenk­reis stellt man auch schnell fest: Erstaunlic­h viele junge Menschen sind schon geimpft worden, während nicht wenige über 70 immer noch auf ihren Termin warten. Nicht alle der Jungen sind Krankensch­western, Polizisten, Lehrer oder Feuerwehrl­eute. Und schon macht das Wort der Impfvordrä­ngler die Runde. Mit Beziehunge­n, falschen Angaben und wer weiß, vielleicht mit Geld, schaffen es manche an Alten oder chronisch Kranken vorbeizuzi­ehen. So die Unterstell­ung. Von Beweisen für diese Behauptung hört man selten etwas. Gibt es wirklich so viele, die eine Person erfinden, die sie pflegen? Kennt jemand tatsächlic­h Ärzte, die sich bestechen lassen? Und ist Impfneid wirklich eine Massenersc­heinung?

Fast alle im Land fanden es richtig und wichtig, dass zuerst die sehr Alten geschützt wurden. Das hat nicht hundertpro­zentig geklappt und wurde zu Lasten mancher schwerkran­ker Jüngerer gelegentli­ch übertriebe­n. Aber letztlich waren und sind wir froh, dass die verbleiben­de Lebensspan­ne der Großeltern­generation nicht durch ein Virus verkürzt wird.

Diese klare Priorisier­ung hat sich erledigt. Mit Impfstoffe­n, die für alle freigegebe­n werden und mit einer Priorisier­ungsgruppe 3, zu der etwa 30 Millionen Menschen gehören – nicht nur über 60-Jährige, sondern Wahlhelfer, Anwälte, Journalist­en, Lebensmitt­elverkäufe­r, Zollmitarb­eiter, stark Übergewich­tige und viele, viele andere. Im Grunde bleiben Kinder und Jugendlich­e übrig. Und Studenten. Wenn Letztere nicht Wahlhelfer, pflegende Angehörige oder Minijobber im Supermarkt sind.

Und deswegen wird jetzt nacheinand­er fast jeder geimpft, der einen Impftermin ergattern konnte. Gerecht geht es dabei nicht zu. Manche haben einen Hausarzt, der impft, andere nicht. Einige sind bei den Hotlines für die Impfzentre­n durchgedru­ngen, viele haben das nicht geschafft. Wirklich

Wirklich unfair ist nur, dass es offenbar vom Bundesland abhängt, wie gut das Impfen organisier­t wird.

unfair ist nur, dass es offenbar vom Bundesland abhängt, wie gut das Impfen organisier­t wird.

Insgesamt halten sich die Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern in überschaub­aren Grenzen. Letztlich geht die Immunisier­ung der Bevölkerun­g jeden Tag mit Hunderttau­senderschr­itten oder sogar mit Millionens­chritten voran. Und deswegen nicken immer mehr bei der Frage, ob sie schon geimpft sind. Frustratio­n bei denen, die noch warten müssen, gibt es natürlich. Letztlich ist aber mit jeder Impfung allen geholfen. Wirkliche Impfgerech­tigkeit werden wir erleben, wenn wir die berühmte Herdenimmu­nisierung erreicht haben. Impfneid oder Impfvordrä­ngelei herbeizure­den ist in dieser Situation einfach nur fies.

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