Heidenheimer Neue Presse

Professor überall

Kaum ein Spd-politiker ist derzeit so präsent wie der Epidemiolo­ge und Gesundheit­sexperte. Die einen halten ihn für einen Besserwiss­er, die anderen loben seinen unermüdlic­hen Einsatz als Corona-erklärer. Eine Annäherung.

- Von Hajo Zenker und André Bochow

Jetzt werden über ihn schon Lieder gesungen. „Wer kennt sich aus, wer ist vom Fach? La, La, La, La, Lauterbach“. So sieht es „Heiter bis Wolkig“, das Punk-kabarett aus Köln. „Wer ist schlauer als das Ding vom Dach?“. Die Antwort versteht sich wohl von selbst. Fängt mit Karl an.

Der Mann, um den es in dem Lied der in die Jahre gekommenen Punker geht, sitzt seit geraumer Zeit in zwei von drei politische­n Talkshows, ist fast Ensemble-mitglied der „heute-show“und landete gerade auf Platz 4 der beliebtest­en Politiker im Zdf-politbarom­eter, in dem er früher nie auftauchte. Dass man sich über ihn, seine Fliege und seine Pläne lustig gemacht hat, scheint eine Ewigkeit her zu sein. Ist es aber nicht.

Im Jahr 2019 will Karl Lauterbach SPDCHEF werden. Im Duo mit Nina Scheer. Er spricht von einem „ziemlich linken Team“, das den Austritt aus der Groko anstrebt. Wegen der Glaubwürdi­gkeit und weil er nicht gleichzeit­ig „Gesetze mit Jens Spahn oder Anja Karliczek verhandeln“möchte, gibt er den Posten des Vize-fraktionsc­hefs und des gesundheit­spolitisch­en Sprechers auf. Er konzentrie­rt sich voll und ganz darauf, den Parteivors­itz zu bekommen. „Willy werden“, wie der „Spiegel“schreibt.

Aber Säle mit kämpferisc­hen Reden zum Kochen bringen, launige Geschichte­n erzählen sind seine Sache nicht. Als im November die Mitglieder befragt werden, reicht es nur zum 4. Platz. Das Scheitern ist groß. Nun ist er, der nach dem Studium zunächst in die CDU eingetrete­n und erst 2001 zur SPD gewechselt ist, und auch in weiten Teilen der eigenen Bundestags­fraktion nicht übermäßig beliebt ist, zusätzlich bei der Basis durchgefal­len. Geschlagen, verletzt, nur noch einfacher Abgeordnet­er. Doch dann kommt die Pandemie. Und es schlägt die große Stunde für den Mann, der auf Fleisch und Salz verzichtet. Als Corona-erklärer und Corona-warner.

„Prof. Dr. med. Dr. sc. (Harvard)“– so stellt sich Lauterbach auf seiner Internetse­ite vor. In Harvard hat er seinen „Doctor of Science“gemacht, seit 1996 ist er dort in Boston Gastdozent. An seiner Qualifikat­ion zweifeln höchstens jene, die ihn für einen dämonische­n Strippenzi­eher der „Corona-diktatur“halten und Transparen­te mit Lauterbach in Sträflings­kleidung durch die Straßen tragen. Geglaubt wird ihm beileibe nicht immer. Oft wollen auch seine Politikerk­ollegen nicht wahrhaben, was ihnen der Experte voraussagt. Als Epidemiolo­ge, sagt Lauterbach, sei „Warnung eine weit verbreitet­e Währung“. So warnte er bereits im April 2020 vor einer zweiten Welle, im Februar 2021 vor der dritten. Dafür wurde er häufig verlacht, angefeinde­t, mit dem Tode bedroht, sein Auto mit Farbe beschmiert. Nicht alle seine Prognosen sind eingetroff­en. Dass es aber häufig schlimmer kam, als es lockerungs­freudige Ministerpr­äsidenten glaubten oder glauben machen wollten, ist Fakt.

„Erst gestern habe ich eine Studie gelesen“, ist ein Standardsa­tz in den unzähligen Talkshows, in denen er seit dem Ausbruch der Pandemie gesessen hat. Und tatsächlic­h: Wer auf dem Laufenden bleiben will, worüber in Sachen Corona in der Wissenscha­ft gerade geredet wird, sollte Lauterbach auf Twitter folgen. Dort teilt er die Links zu den entspreche­nden Studien – natürlich versehen mit einer Meinung des Politikers.

Er sei „ein Bundestags­abgeordnet­er, der noch selbst tweetet“. Mehr als eine halbe Millionen Follower freuen sich darüber. Und Lauterbach hat viel zu sagen. Am 3. Mai fragte er sich: „Bin ich der einzige, der den Münster Tatort nie schaut, weil er zu kitschig ist? Diese chronische Abneigung weiss ich aber gut von der, me ebenfalls berechtigt­en, Kritik an Jan Josef Liefers zu trennen.“

Als linker Utopist verhöhnt

Die Sache mit der mehr oder weniger verunglück­ten satirische­n Schauspiel­er-kritik kann Lauterbach natürlich nicht unkommenti­ert lassen. Die Aussagen von #allesdicht­machen hätten ihn „nicht überzeugt“, schreibt er. „Trotzdem müssen wir alle mit Anschuldig­ungen und Beleidigun­gen abrüsten. Die Schauspiel­er machen auf ihre Probleme aufmerksam. Sie haben ein Anliegen, wie wir Wissenscha­ftler und Politiker auch. Toleranz muss sein.“

Folgt man dem, was über Karl Lauterbach in den vergangene­n Jahren geschriebe­n wurde, wird ihm weniger Toleranz, als vielmehr eine gehörige Portion Ich-bezogenhei­t und Rechthaber­ei bescheinig­t. Mal war er „Die ICH-AG mit Fliege“, mal der „Rebell“, der sich anschickte, die „Medizin zu reglementi­eren“. Als er noch nicht einmal im Bundestag

war, hieß in einer Zeitung: „ ,Karlchen überall‘ provoziert Ärzte und Funktionär­e.“Richtig zur Sache ging es, als der 2005 in den Bundestag gewählte Professor das Buch „Der Zweiklasse­nstaat“schrieb. Im Juni 2007 verhöhnte ihn „Die Welt“regelrecht als linken Utopisten. Die aufgezählt­en, scheinbar abenteuerl­ichen Voraussage­n Lauterbach­s für das Jahr 2027 (Altersarmu­t, massive Integratio­nsprobleme, eine vor sich hindümpeln­de Forschungs­landschaft, extreme Unterschie­de zwischen Arm und Reich) lesen sich 2021 gar nicht mehr so abwegig. Und blättert man die Archive durch, findet man immer wieder den Witz, der Lauterbach­s wirkliche oder vermeintli­che Besserwiss­erei illustrier­en soll. Danach fragt der Beschriebe­ne einen Jungen, wie alt er sei. „Acht“, lautet die Antwort. Lauterbach: „In Deinem Alter war ich schon neun.“

2013 entdeckten „Bild“, „Focus“und andere, die schon 2004 geschieden­e Ehe und die Ex-frau, die Lauterbach als Minister für moralisch eher ungeeignet hielt, weil es jahrelang Streit um den Unterhalt für die vier gemeinsame­n Kinder gegeben haben soll. Der Beschuldig­te widersprac­h, in der Zeitung stand, dass ihn in der SPD sowieso niemand für ministrabe­l hielt. Dass er gern Bundesgesu­ndheitsmin­ister geworden wäre, daraus hat Lauterbach nie einen Hehl gemacht. Und in diesem Amt wäre er nach eigenem Bekunden „auch nicht in Überforder­ung untergegan­gen“.

Als dann aber Mitte März auf Twitter unter dem Hashtag #Wirwollenk­arl die Forderung viel Anklang fand, Lauterbach solle Jens Spahn (CDU) als Gesundheit­sminister ablösen, holt Spahn Lauterbach zu seiner wöchentlic­hen Medienunte­rrichtung in die Bundespres­sekonferen­z. Und der SPD-MANN sagt, dass man in der Pandemie-bekämpfung keine Parteipoli­tik gebrauchen könne und er wiederholt, was er in dieser Groko-zeit schon mehrfach über Spahn geäußert hat: „Wir arbeiten eng und gut zusammen.“Beide betonen Respekt voreinande­r, und dass sie schon „ewig“, wohl so um die 15 Jahre, miteinande­r im Gespräch seien. Politik, befand Spahn, sei gerade in einer Pandemie „kein Schonwasch­gang, wir haben Aufgaben zu erledigen“. Lauterbach nickt. Und Spahn legt mit Blick auf Lauterbach nach: „Vielleicht wird er ja nochmal Gesundheit­sminister.“

Lauterbach hat Spahn zwar immer auch widersproc­hen, wenn er einen der rhetorisch­en Schnellsch­üsse des Ministers sachlich für falsch hielt. Etwa, als Spahn jede regional verankerte AOK für jeden gesetzlich Versichert­en bundesweit freigeben wollte – „das macht keinen Sinn, das machen wir nicht mit“. Aber vor allem war dem ausgebilde­ten Arzt und Epidemiolo­gen wichtig, in der Sache voranzukom­men. Weshalb er häufig betonte, „ganz eng“mit Spahn zu sein. Das behielt Lauterbach zum Ärger vieler Genossen auch dann noch bei, als Spahn vom gefeierten Corona-manager nach Impf- und Testchaos innerhalb weniger Wochen zum Problembär­en wurde. Und viele in der SPD fanden, man müsse mit Angriffen auf Spahn Wahlkampf für die eigene Sache machen.

Dass man sich über ihn und seine Fliege lustig gemacht hat, scheint eine Ewigkeit her zu sein. Ist es aber nicht.

Wahnsinnig viel um die Ohren

Den schlaksige­n, im Rheinische­n, näselnden Singsang argumentie­renden Professor haben schon viele unterschät­zt. Das sollte man nicht einmal dann tun, wenn man Lauterbach mal in einer Kneipensch­lägerei sehen würde. Für den sehr unwahrsche­inlichen Fall sei die Warnung ausgesproc­hen, dass der 1,82 Meter große und 58-jährige Epidemiolo­ge Wing Chun beherrscht, eine chinesisch­e Kampfsport­art. Auch im Tischtenni­s könnte ein Duell böse ausgehen. Lauterbach trainiert regelmäßig und intensiv. Nach eigenen Aussagen übersteigt seine Verbissenh­eit im Sport noch die in der Politik. Und man sollte ihn auch nicht für einen Nerd halten, dem verschiede­ntlich nachgesagt wird, er wünsche sich nach zwei geschieden­en Ehen nichts sehnlicher als eine Frau an seiner Seite. Der „Zeit“verriet er, dass seine 25-jährige Tochter bei ihm ihr Homeoffice hat.

Und natürlich hat er gerade wahnsinnig viel um die Ohren. Einer der letzten Tweets vor Redaktions­schluss beschäftig­t sich mit der indischen Coronaviru­s-mutation. „Der Anstieg sieht nicht gut aus. Wir sollten auf jeden Fall gezielt nach den beiden Hauptmutat­ionen suchen in unserer Routineseq­uenzierung. Die Variante ist wohl doch so ansteckend wie B117 und setzt sich so bei Teilgeimpf­ten durch.“Das Virus schläft nicht. Aber es hat einen Gegner, der auch wenig Schlaf braucht. Oder wie es im Lied heißt: „Wer kennt die Viren und hält sie in Schach? La, la, la, la, Lauterbach.“

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Foto: Stefanie Loos/afp Wurde für seine Warnungen häufig verlacht, angefeinde­t und mit dem Tode bedroht: Der Spd-gesundheit­sexperte Karl Lauterbach.
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Die Fliegen waren jahrelang Lauterbach­s Markenzeic­hen. Jetzt lagert er sie zu Hause in Kisten.

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