Professor überall
Kaum ein Spd-politiker ist derzeit so präsent wie der Epidemiologe und Gesundheitsexperte. Die einen halten ihn für einen Besserwisser, die anderen loben seinen unermüdlichen Einsatz als Corona-erklärer. Eine Annäherung.
Jetzt werden über ihn schon Lieder gesungen. „Wer kennt sich aus, wer ist vom Fach? La, La, La, La, Lauterbach“. So sieht es „Heiter bis Wolkig“, das Punk-kabarett aus Köln. „Wer ist schlauer als das Ding vom Dach?“. Die Antwort versteht sich wohl von selbst. Fängt mit Karl an.
Der Mann, um den es in dem Lied der in die Jahre gekommenen Punker geht, sitzt seit geraumer Zeit in zwei von drei politischen Talkshows, ist fast Ensemble-mitglied der „heute-show“und landete gerade auf Platz 4 der beliebtesten Politiker im Zdf-politbarometer, in dem er früher nie auftauchte. Dass man sich über ihn, seine Fliege und seine Pläne lustig gemacht hat, scheint eine Ewigkeit her zu sein. Ist es aber nicht.
Im Jahr 2019 will Karl Lauterbach SPDCHEF werden. Im Duo mit Nina Scheer. Er spricht von einem „ziemlich linken Team“, das den Austritt aus der Groko anstrebt. Wegen der Glaubwürdigkeit und weil er nicht gleichzeitig „Gesetze mit Jens Spahn oder Anja Karliczek verhandeln“möchte, gibt er den Posten des Vize-fraktionschefs und des gesundheitspolitischen Sprechers auf. Er konzentriert sich voll und ganz darauf, den Parteivorsitz zu bekommen. „Willy werden“, wie der „Spiegel“schreibt.
Aber Säle mit kämpferischen Reden zum Kochen bringen, launige Geschichten erzählen sind seine Sache nicht. Als im November die Mitglieder befragt werden, reicht es nur zum 4. Platz. Das Scheitern ist groß. Nun ist er, der nach dem Studium zunächst in die CDU eingetreten und erst 2001 zur SPD gewechselt ist, und auch in weiten Teilen der eigenen Bundestagsfraktion nicht übermäßig beliebt ist, zusätzlich bei der Basis durchgefallen. Geschlagen, verletzt, nur noch einfacher Abgeordneter. Doch dann kommt die Pandemie. Und es schlägt die große Stunde für den Mann, der auf Fleisch und Salz verzichtet. Als Corona-erklärer und Corona-warner.
„Prof. Dr. med. Dr. sc. (Harvard)“– so stellt sich Lauterbach auf seiner Internetseite vor. In Harvard hat er seinen „Doctor of Science“gemacht, seit 1996 ist er dort in Boston Gastdozent. An seiner Qualifikation zweifeln höchstens jene, die ihn für einen dämonischen Strippenzieher der „Corona-diktatur“halten und Transparente mit Lauterbach in Sträflingskleidung durch die Straßen tragen. Geglaubt wird ihm beileibe nicht immer. Oft wollen auch seine Politikerkollegen nicht wahrhaben, was ihnen der Experte voraussagt. Als Epidemiologe, sagt Lauterbach, sei „Warnung eine weit verbreitete Währung“. So warnte er bereits im April 2020 vor einer zweiten Welle, im Februar 2021 vor der dritten. Dafür wurde er häufig verlacht, angefeindet, mit dem Tode bedroht, sein Auto mit Farbe beschmiert. Nicht alle seine Prognosen sind eingetroffen. Dass es aber häufig schlimmer kam, als es lockerungsfreudige Ministerpräsidenten glaubten oder glauben machen wollten, ist Fakt.
„Erst gestern habe ich eine Studie gelesen“, ist ein Standardsatz in den unzähligen Talkshows, in denen er seit dem Ausbruch der Pandemie gesessen hat. Und tatsächlich: Wer auf dem Laufenden bleiben will, worüber in Sachen Corona in der Wissenschaft gerade geredet wird, sollte Lauterbach auf Twitter folgen. Dort teilt er die Links zu den entsprechenden Studien – natürlich versehen mit einer Meinung des Politikers.
Er sei „ein Bundestagsabgeordneter, der noch selbst tweetet“. Mehr als eine halbe Millionen Follower freuen sich darüber. Und Lauterbach hat viel zu sagen. Am 3. Mai fragte er sich: „Bin ich der einzige, der den Münster Tatort nie schaut, weil er zu kitschig ist? Diese chronische Abneigung weiss ich aber gut von der, me ebenfalls berechtigten, Kritik an Jan Josef Liefers zu trennen.“
Als linker Utopist verhöhnt
Die Sache mit der mehr oder weniger verunglückten satirischen Schauspieler-kritik kann Lauterbach natürlich nicht unkommentiert lassen. Die Aussagen von #allesdichtmachen hätten ihn „nicht überzeugt“, schreibt er. „Trotzdem müssen wir alle mit Anschuldigungen und Beleidigungen abrüsten. Die Schauspieler machen auf ihre Probleme aufmerksam. Sie haben ein Anliegen, wie wir Wissenschaftler und Politiker auch. Toleranz muss sein.“
Folgt man dem, was über Karl Lauterbach in den vergangenen Jahren geschrieben wurde, wird ihm weniger Toleranz, als vielmehr eine gehörige Portion Ich-bezogenheit und Rechthaberei bescheinigt. Mal war er „Die ICH-AG mit Fliege“, mal der „Rebell“, der sich anschickte, die „Medizin zu reglementieren“. Als er noch nicht einmal im Bundestag
war, hieß in einer Zeitung: „ ,Karlchen überall‘ provoziert Ärzte und Funktionäre.“Richtig zur Sache ging es, als der 2005 in den Bundestag gewählte Professor das Buch „Der Zweiklassenstaat“schrieb. Im Juni 2007 verhöhnte ihn „Die Welt“regelrecht als linken Utopisten. Die aufgezählten, scheinbar abenteuerlichen Voraussagen Lauterbachs für das Jahr 2027 (Altersarmut, massive Integrationsprobleme, eine vor sich hindümpelnde Forschungslandschaft, extreme Unterschiede zwischen Arm und Reich) lesen sich 2021 gar nicht mehr so abwegig. Und blättert man die Archive durch, findet man immer wieder den Witz, der Lauterbachs wirkliche oder vermeintliche Besserwisserei illustrieren soll. Danach fragt der Beschriebene einen Jungen, wie alt er sei. „Acht“, lautet die Antwort. Lauterbach: „In Deinem Alter war ich schon neun.“
2013 entdeckten „Bild“, „Focus“und andere, die schon 2004 geschiedene Ehe und die Ex-frau, die Lauterbach als Minister für moralisch eher ungeeignet hielt, weil es jahrelang Streit um den Unterhalt für die vier gemeinsamen Kinder gegeben haben soll. Der Beschuldigte widersprach, in der Zeitung stand, dass ihn in der SPD sowieso niemand für ministrabel hielt. Dass er gern Bundesgesundheitsminister geworden wäre, daraus hat Lauterbach nie einen Hehl gemacht. Und in diesem Amt wäre er nach eigenem Bekunden „auch nicht in Überforderung untergegangen“.
Als dann aber Mitte März auf Twitter unter dem Hashtag #Wirwollenkarl die Forderung viel Anklang fand, Lauterbach solle Jens Spahn (CDU) als Gesundheitsminister ablösen, holt Spahn Lauterbach zu seiner wöchentlichen Medienunterrichtung in die Bundespressekonferenz. Und der SPD-MANN sagt, dass man in der Pandemie-bekämpfung keine Parteipolitik gebrauchen könne und er wiederholt, was er in dieser Groko-zeit schon mehrfach über Spahn geäußert hat: „Wir arbeiten eng und gut zusammen.“Beide betonen Respekt voreinander, und dass sie schon „ewig“, wohl so um die 15 Jahre, miteinander im Gespräch seien. Politik, befand Spahn, sei gerade in einer Pandemie „kein Schonwaschgang, wir haben Aufgaben zu erledigen“. Lauterbach nickt. Und Spahn legt mit Blick auf Lauterbach nach: „Vielleicht wird er ja nochmal Gesundheitsminister.“
Lauterbach hat Spahn zwar immer auch widersprochen, wenn er einen der rhetorischen Schnellschüsse des Ministers sachlich für falsch hielt. Etwa, als Spahn jede regional verankerte AOK für jeden gesetzlich Versicherten bundesweit freigeben wollte – „das macht keinen Sinn, das machen wir nicht mit“. Aber vor allem war dem ausgebildeten Arzt und Epidemiologen wichtig, in der Sache voranzukommen. Weshalb er häufig betonte, „ganz eng“mit Spahn zu sein. Das behielt Lauterbach zum Ärger vieler Genossen auch dann noch bei, als Spahn vom gefeierten Corona-manager nach Impf- und Testchaos innerhalb weniger Wochen zum Problembären wurde. Und viele in der SPD fanden, man müsse mit Angriffen auf Spahn Wahlkampf für die eigene Sache machen.
Dass man sich über ihn und seine Fliege lustig gemacht hat, scheint eine Ewigkeit her zu sein. Ist es aber nicht.
Wahnsinnig viel um die Ohren
Den schlaksigen, im Rheinischen, näselnden Singsang argumentierenden Professor haben schon viele unterschätzt. Das sollte man nicht einmal dann tun, wenn man Lauterbach mal in einer Kneipenschlägerei sehen würde. Für den sehr unwahrscheinlichen Fall sei die Warnung ausgesprochen, dass der 1,82 Meter große und 58-jährige Epidemiologe Wing Chun beherrscht, eine chinesische Kampfsportart. Auch im Tischtennis könnte ein Duell böse ausgehen. Lauterbach trainiert regelmäßig und intensiv. Nach eigenen Aussagen übersteigt seine Verbissenheit im Sport noch die in der Politik. Und man sollte ihn auch nicht für einen Nerd halten, dem verschiedentlich nachgesagt wird, er wünsche sich nach zwei geschiedenen Ehen nichts sehnlicher als eine Frau an seiner Seite. Der „Zeit“verriet er, dass seine 25-jährige Tochter bei ihm ihr Homeoffice hat.
Und natürlich hat er gerade wahnsinnig viel um die Ohren. Einer der letzten Tweets vor Redaktionsschluss beschäftigt sich mit der indischen Coronavirus-mutation. „Der Anstieg sieht nicht gut aus. Wir sollten auf jeden Fall gezielt nach den beiden Hauptmutationen suchen in unserer Routinesequenzierung. Die Variante ist wohl doch so ansteckend wie B117 und setzt sich so bei Teilgeimpften durch.“Das Virus schläft nicht. Aber es hat einen Gegner, der auch wenig Schlaf braucht. Oder wie es im Lied heißt: „Wer kennt die Viren und hält sie in Schach? La, la, la, la, Lauterbach.“