„Allein zu sein ist etwas Exquisites“
Judith Hermann hat vor kurzem den Roman „Daheim“veröffentlicht, ihr erstes Buch seit fünf Jahren. Die Berlinerin macht sich rar, doch das Schreiben prägt ihr ganzes Leben.
Vom permanenten Veröffentlichungsdruck der Buchbranche lässt sich Judith Hermann kaum beeinflussen: Die Berlinerin veröffentlicht meist nur alle vier, fünf Jahre ein neues Werk – zuletzt den Erzählband „Lettipark“. Ihr soeben erschienener Roman „Daheim“hat es bereits auf die „Spiegel“-bestsellerliste geschafft. Wir sprachen mit ihr über das Buch und das Schreiben.
Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie aus der Idee zu „Daheim“einen Roman gemacht haben? Judith Hermann:
Meine Geschichten entscheiden für sich, wie lang oder kurz sie sein wollen. Ich fange zwar mit einer bestimmten Idee an zu schreiben und weiß ungefähr, was ich im Text unterbringen will; aber erst während des Schreibens entsteht eine genauere Vorstellung davon, wie viel Raum die Geschichte brauchen wird. „Daheim“war zunächst eine beinah klassische Shortstory: Eine junge Frau trifft einen alten Zauberer, der mit ihr als Assistentin nach Singapur gehen will, sie zieht das in Erwägung und entscheidet sich dann doch dagegen – aus Gründen, die die Geschichte verschweigt.
Und dafür reichte der Raum einer Kurzgeschichte nicht aus?
Ich wollte mehr über diese Figur wissen, ich wollte wissen, wie das weitergeht, was diese junge Frau stattdessen macht, was aus ihr werden wird. Ich wollte das herausfinden und es aufschreiben, und die Figur wollte davon erzählen – so wurde ein Roman daraus.
Diese Frau zieht Jahrzehnte nach ihrer Begegnung mit dem Zauberer nach einer Trennung in ein Dorf am Meer. Sie wirkt, als ob sie dort Freude am Alleinsein hätte und die Einsamkeit genießen könnte.
Sie empfindet es tatsächlich in keiner Weise als defizitär allein zu sein, es schwächt sie auch nicht und es macht sie nicht trauriger, als bestimmte Dinge ohnehin traurig sein können. Allein zu sein ist etwas Exquisites, eine Möglichkeit, sich selber und die Erinnerungen zu besehen und zu ordnen. Begegnungen mit anderen sind ihr durchaus wichtig, aber die Rückkehr ins Alleinsein ist genauso wichtig. Und vermutlich ist das ziemlich nah dran an dem, was man lebt, wenn man schreibt.
Arbeiten Sie in den Jahren zwischen Ihren Veröffentlichungen kontinuierlich am jeweils neuen Werk oder gibt es währenddessen freie Phasen, in denen Sie Ihre Gedanken schweifen lassen können?
Ich habe ganz wenige freie Phasen zwischen den Veröffentlichungen. Je älter ich werde, desto mehr begreife ich, dass die Entscheidung fürs Schreiben bedeutet, eigentlich immer zu schreiben. Es gibt eine bestimmte Art der Wahrnehmung, die dann nicht mehr zu unterbrechen ist, ein permanentes Selbstgespräch, das unentwegt Realität in einen möglichen Text umsetzt.
In „Daheim“beschreiben Sie an einer Stelle, was auf dem Schreibtisch Ihrer Hauptfigur liegt. Wie sieht es auf Ihrem aus?
Auf meinem Schreibtisch liegen eine Menge kleiner Zettel und es steht eine Tasse Tee darauf, ein Stövchen mit der Kanne. Stifte, Bleistifte, ein Anspitzer, und eine Lampe mit einem Sockel, auf dem Dinge liegen, die mir wichtig sind.
Ein Beispiel, bitte.
Räucherstäbchen. Ich habe sehr lange geraucht und als ich mir das
Rauchen abgewöhnt habe, war der Verzicht auf die Zigarette am Schreibtisch der schwerste. Ich rauche nicht mehr, aber ich möchte gerne Rauch um mich herum haben, ich möchte ihn sehen, dem Rauch hinterhersehen.
Auffällig an Ihrem Roman sind viele ruhig und präzise beschriebenen Momente, in denen Ihre Figuren etwas wahrnehmen, zum Beispiel eine Aussicht oder eine Stimmung. Ist das „Achtsamkeit“für Sie?
Ich mag diesen modernen Begriff nicht besonders, dieses angesagte Gebot der Konzentration aufs Hier und Jetzt. Aber natürlich ist das dem Schreiben immanent. Es bedeutet schlicht, sich zu fokussieren, sich die Dinge ganz genau anzuschauen. Ich kann vermutlich gar keinen Text beginnen, ohne mich zu fragen, wie ich diesen Gegenstand, diese Stimmung, diesen Blick aus dem Fenster erzählen will. Etwas von dieser Haltung geht auf die Figuren über, was aber auch etwas damit zu tun hat, dass ich über das Innenleben meiner Figuren gar nicht so viel sage. Ich beschreibe sie eher mittels der Dinge, die sie sehen, oder der Begegnungen, die sie haben, oder der Dinge, die andere Menschen ihnen zeigen, oder der Sätze, die sie ihnen sagen.
Wir sprachen bereits übers Alleinsein und die Einsamkeit Ihrer Hauptfigur. Haben Sie über diese Zurückgezogenheit bewusst als Bezug zur Pandemiezeit geschrieben?
Nein. Ich habe an „Daheim“bereits 2019 geschrieben und es im Februar 2020 abgegeben, als das Wort von der „Pandemie“noch nicht in unser aller Bewusstsein angelangt war. Dieser gewisse Rückzug, den die Frau in meinem Roman versucht und lebt, hat in den pandemischen Zeiten einen eigenen Beiklang bekommen. Und eigentlich ist das merkwürdig – für mich und für meine Erzählerin auch.