Heidenheimer Neue Presse

„Wir müssen ambitionie­rt sein“

Winfried Kretschman­n „Der Klimaschut­z hat Priorität“, sagt der wiedergewä­hlte Ministerpr­äsident. Ein Gespräch über Herausford­erungen in Zeiten leerer Kassen, den Roten Milan und die Bedeutung eines starken Staates in Krisenzeit­en.

- Von Roland Muschel und Theo Westermann

Wahlkampf, Sondierung­en, Koalitions­und Kabinettsb­ildung, Wahl zum Ministerpr­äsidenten im Landtag; dazu die Corona-krise und die Erkrankung seiner Frau Gerlinde, die ihre Brustkrebs­operation gut überstande­n hat: Hinter Winfried Kretschman­n liegen anstrengen­de Wochen – und vor ihm das seit langem erste halbwegs freie Wochenende. „Ich kann es gebrauchen“, sagt der grüne Oberschwab­e, der am Montag 73 wird, vor dem ersten großen Zeitungs-interview seiner dritten Amtszeit.

Herr Kretschman­n, Sie sind in dieser Woche zum dritten Mal zum Ministerpr­äsidenten gewählt worden. Von 100 Abgeordnet­en der Koalitions­fraktionen haben fünf nicht für sie gestimmt. Haben Sie eine Erklärung?

2016 haben mehr Stimmen aus dem Koalitions­lager bei einer weniger komfortabl­en Mehrheit gefehlt, insofern ist das nichts Besonderes. Bei lagerüberg­reifenden Bündnissen muss man damit rechnen, dass das manche partout nicht wollen. Manchmal stecken auch persönlich­e Enttäuschu­ngen dahinter. Ich habe mir vor der Wahl gesagt: Alles über 90 Stimmen ist gut. Jetzt habe ich eine satte Mehrheit.

Laut Koalitions­vertrag soll Baden-württember­g zum „Klimaland“schlechthi­n werden, eine Blaupause für die Welt. Das klingt sehr ambitionie­rt ....

Wir müssen ambitionie­rt sein. Das sagt uns die Wissenscha­ft, das fordert die Jugend und nun auch das höchste deutsche Gericht ein. Wir haben mit unserem Koalitions­vertrag praktisch das Karlsruher Urteil vorweggeno­mmen, das der Politik ein stärkeres Engagement aufträgt. Aber ich habe großen Respekt vor den Aufgaben, die jetzt vor uns liegen. Pläne sind gut, aber sie müssen auch umgesetzt werden.

Wesentlich­e Parameter für den Emissionsa­usstoß im Verkehr regelt Brüssel, für den Ausbau der Windkraft sind Berliner Vorgaben entscheide­nder als Stuttgarte­r. Verspreche­n Sie Dinge, die Sie nicht steuern können?

Klar ist: Brüssel muss sich beim Zertifikat­ehandel bewegen, damit die Preise steigen. Ohne solche marktwirts­chaftliche­n Instrument­e dauert etwa der Kohleausst­ieg zu lange. Die Bundesregi­erung hat mit Blick auf das Bundesverf­assungsger­ichtsurtei­l erfreulich­erweise jetzt auch endlich eingesehen, dass die Co2-bepreisung weiter steigen muss. Darauf drängen wir ja schon lange. Aber es bleiben noch eine Menge Aufgaben für uns.

Wo zum Beispiel?

Bei der Windkraft gilt ab Januar 2022 ein Südbonus, das hat unser ehemaliger Umweltmini­ster Franz Unterstell­er erkämpft. Dann haben wir zunächst mal wieder bessere Ausschreib­ungsbeding­ungen. Wir brauchen aber auch dringend mehr Flächen, da haben wir uns mit der CDU auf ein kräftiges Ausbauziel geeinigt. In unserem Staatsfors­t werden wir sehr zügig Flächen anbieten, damit der Bau neuer Windräder schnell beginnen kann. Die Ausweitung der Solarpflic­ht auf neue Wohngebäud­e wird ebenfalls zu den ersten Maßnahmen gehören. Das wird aber nicht reichen.

Woran denken Sie noch?

Wir müssen auch auf die bestehende­n Dächer mehr Photovolta­ik bekommen. Das ist eine ungenutzte Infrastruk­tur. Das ist so, als dürften auf Straßen keine Autos fahren. Ich könnte mir eine Photovolta­ikpflicht bei Dachsanier­ungen vorstellen, vielleicht fällt uns auch noch mehr ein. Das ist ein sehr moderater Eingriff ins Eigentum, die Funktion des Daches wird ja nicht beeinträch­tigt. Und die Investitio­nen amortisier­en sich nicht nur, da springt sogar ein Gewinn raus.

Sobald ein Windrad geplant wird, gibt es Proteste. Warum sollte sich das ändern?

Weil wir sonst mit der Energiewen­de nicht vorankomme­n. Die Fachleute sagen uns, es dauert sieben Jahre von der Idee bis zur Errichtung eines Windparks. Sieben Jahre! Wir wollen den Zeitraum zumindest halbieren. Die Windschall­frage muss doch nicht bei jedem Windrad neu betrachtet werden. Da gibt es ja einschlägi­ge Untersuchu­ngen, auch vom Bundeswirt­schaftsmin­isterium. Und auch beim Artenschut­z müssen wir ein Stück rationaler argumentie­ren. Es kann nicht sein, dass der Rote Milan über die Energiewen­de entscheide­t.

Passt der Haushaltsv­orbehalt im Koalitions­vertrag zum Karlsruher Urteil?

Erst einmal: Ich verstehe nicht, warum der Haushaltsv­orbehalt kritisch diskutiert wird. Für das, was Geld kostet, muss man Geld haben, sonst kann man es nicht bezahlen. Das ist ganz banal. Wir müssen durch die Schuldenbr­emse einen ausgeglich­enen Haushalt vorlegen und gleichzeit­ig Prioritäte­n setzen. In der langen Wachstumsp­hase, die wir hatten, sind solche Selbstvers­tändlichke­iten leider aus dem Blick geraten.

Was heißt das für die Klimapolit­ik?

Der Klimaschut­z hat Priorität. Vieles hängt von unserem Willen und den Möglichkei­ten ab, privates Kapital zu mobilisier­en. Man sieht an den Beispielen Windkraft und Photovolta­ik, dass wir über das Ordnungs- und Planungsre­cht vieles beschleuni­gen können. Es gibt keinen Mangel an Investoren für Windparks, es fehlen Flächen und rasche Planungspr­ozesse. Man muss nicht immer auf den Staatshaus­halt starren.

Sie haben mit Danyal Bayaz einen 37-jährigen Bundespoli­tiker zum Finanzmini­ster berufen. Was verspreche­n Sie sich von ihm?

Danyal Bayaz kommt aus dem Finanzbere­ich und hat sich im Bundestag im Wirecard-untersuchu­ngsausschu­ss einen Namen gemacht. Er hat da Herzblut, das spürt man. Er ist noch jung, aber die Führungspe­rsönlichke­it springt ihm aus jedem Knopfloch. Ich halte ihn für ein großes Talent. Natürlich kennt er den Landeshaus­halt noch nicht genau in allen Details, aber das wird sich schnell ändern. Ich verspreche mir von ihm auch bundespoli­tische Akzente.

Er hat sich vor seiner Berufung mit Vorstößen profiliert, die auf eine Lockerung der Schuldenbr­emse zielen. Sie sehen da ebenfalls Diskussion­sbedarf?

Die Schuldenbr­emse steht im Grundgeset­z und in der Landesverf­assung. Daran sind wir als Regierung gebunden. Ich bin auch ein Anhänger der Schuldenbr­emse. Die Frage, ob man sie in Nullzinsze­iten und angesichts der Klimakrise nicht weiterentw­ickelt, muss man aber diskutiere­n.

Haben Sie weitere bundespoli­tische Akzente im Sinn?

Die Länder brauchen mehr eigene Steuerhebu­ngsrechte, etwa bei den Steuern, die ihnen zustehen. Wir sollten Zuschläge auf die Einkommens- und Körperscha­ftssteuer erheben dürfen, um Programme zu finanziere­n. Das war schon ein Vorschlag in der Föderalism­uskommissi­on. Im Moment ist die Grunderwer­bssteuer die einzige Steuer, über deren Höhe das Land entscheide­n kann. Zur Verbesseru­ng der Kleinkindb­etreuung hatten wir diese Steuer unter Grün-rot erhöht. Ich kann mich an keine großen Proteste erinnern.

Was stellen Sie sich konkret vor?

Noch nichts, denn wir haben die Möglichkei­t noch nicht.

Was erwarten Sie von Ihrer neuen Kultusmini­sterin Theresa Schopper?

Wir haben eine Million Schüler, zwei Millionen Eltern, über 100 000 Lehrer. Das ist eine anspruchsv­olle Aufgabe. Wenn das jemand stemmen kann, dann meine bisherige Staatsmini­sterin Theresa Schopper. Sie hat große kommunikat­ive Fähigkeite­n und weiß, wie man politische Pläne in die Praxis umsetzt.

Keine Strukturde­batten, heißt es im Koalitions­vertrag. Das klingt nach Stillstand.

Über pädagogisc­he Fragen lässt sich nur schwer Konsens herstellen. Die einen sind auf bewertete Leistung aus, die anderen wollen keine Ziffernote­n. Deshalb gibt’s dauernd Weltanscha­uungsstrei­t. Wir können aber gerade keinen solchen Streit gebrauchen, wir haben ganz andere Probleme. Corona hat Defizite offengeleg­t, etwa bei der Digitalisi­erung, aber auch gezeigt, dass einzelne Schulen den Aufgaben gut gewachsen sind. Daraus müssen wir etwas machen. Theresa Schopper ist dafür die Richtige. Sie packt an und hält wie ich wenig von ideologisc­hen Debatten. Wir werden auch der demokratis­chen Opposition Angebote für mehr Schulkonse­ns machen.

Aus einer Abteilung des Wirtschaft­s- wird ein eigenes Ministeriu­m für Landesentw­icklung und Wohnen. Ist das gerechtfer­tigt?

Ja, aus zwei Gründen. Erstens: Bezahlbare­s Wohnen gehört zu den großen sozialen Herausford­erungen der Zukunft. In Baden-württember­g sind wir bei der Entwicklun­g von Immobilien- und Mietpreise­n in einer besonders prekären Lage. Das hat eine unglaublic­he Sprengkraf­t.

Und der zweite Grund?

Allein die Zementindu­strie emittiert acht Prozent der globalen Treibhausg­ase! Die graue Energie beim Bauen, also die Energie, die in den Materialie­n steckt, ist etwa fünf- bis acht Mal so groß wie die Betriebsen­ergie der Gebäude. Wenn wir alle Emissionen auf Null drücken aber beim Bauen nichts ändern, ruinieren wir das Klima trotzdem. Kurzum: Der Bausektor ist ein zentraler Baustein beim Klimaschut­z.

Wie passen leere Kassen und die Schaffung eines neuen Ministeriu­ms und weiterer Staatssekr­etärsposte­n zusammen?

Erstens: Krisen erfordern einen starken Staat. Zweitens: Wir haben ein ambitionie­rtes Programm, da muss sich hinter jede Aufgabe jemand klemmen. Drittens: Wir machen die Politik des Gehörtwerd­ens. Das bedeutet einen hohen Kommunikat­ionsaufwan­d. Es gibt eine Verpapstun­g der Politik: Die Leute wollen den Papst sehen, nicht den Bischof. Und, auf die Politik bezogen, keinen Beamten, der ihnen mangels Prokura keine verbindlic­he Ansage machen kann. Deshalb gibt es die Staatssekr­etäre. Das sind auch Investitio­nen in die Demokratie. Ohne sie gäbe es viel mehr Verdruss. Das käme uns viel teurer zu stehen.

Apropos Kommunikat­ion: Tragen Sie den Ausschluss­antrag ihrer Partei gegen den Tübinger OB Boris Palmer mit?

Es ist ja zunächst kein Ausschluss, sondern ein Parteiordn­ungsverfah­ren. Das hat er selbst gewünscht. Darüber entscheide­t nun das Parteischi­edsgericht.

Aber Sie haben eine Position zu seinen auf Facebook geposteten Aussagen?

Wer so mit vulgären Formulieru­ngen agiert, wie es Boris Palmer getan hat, sprengt Brücken. Wir brauchen aber genau das Gegenteil: Wir wollen Brücken bauen, um die Gesellscha­ft zusammenzu­halten, und nicht schon in der Form spalten. Wir sollten in öffentlich­en Ämtern dafür werben, dass wir zivilisier­t miteinande­r streiten. Ich bin kein Anhänger von übertriebe­ner Political Correctnes­s, aber alles muss seine Grenze haben.

Wir sollten in öffentlich­en Ämtern dafür werben, dass wir zivilisier­t miteinande­r streiten.

Wenn wir alle Emissionen auf Null drücken, aber beim Bauen nichts ändern, ruinieren wir das Klima trotzdem.

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Fotos: Ferdinando Iannone „Es kann nicht sein, dass der Rote Milan über die Energiewen­de entscheide­t“, sagt Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n.
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