Heidenheimer Neue Presse

Endet die Castingsho­w-ära?

TV Demütigung und Provokatio­n als Erfolg: 20 Jahre hat dies das Privatfern­sehen geprägt. Langzeit-oberjuror Dieter Bohlen ist bei „DSDS“raus. Stirbt das Genre aus?

- Von Gregor Tholl

Tausende junge Frauen wollen Deutschlan­ds nächstes „Topmodel“werden, Hobby-sänger lassen sich für ein bisschen Ruhm demütigen: 20 Jahre Castingsho­ws haben die deutsche Gesellscha­ft verändert. Doch auch die Vorzeigefo­rmate wie Heidi Klums „Germany‘s Next Topmodel“, „Deutschlan­d sucht den Superstar“und „The Voice of Germany“kämpfen mit sinkendem Interesse, zumindest bei den absoluten Zuschauerz­ahlen im linearen Fernsehen. Das Finale von „The Voice Kids“hatte vor kurzem so wenige Zuschauer wie noch nie. Ist die klassische Castingsho­w out?

Ausreichen­de Marktantei­le im breiter gewordenen Bewegtbild­markt lassen die Sender an den Formaten zwar festhalten. Pro 7 etwa feiert die aktuellen „Topmodel“-folgen als „die erfolgreic­hste Staffel seit Jahren“, doch der Zuschauers­chwund im klassische­n Fernsehen ist im Vergleich zu den besten Zeiten deutlich. Und bei DSDS ist sogar der prägende Oberjuror Dieter Bohlen raus.

„Ich denke nicht, dass das Casting-zeitalter komplett vorbei ist“, sagt Katrin Döveling, Professori­n für Kommunikat­ionswissen­schaften und Medienkomm­unikation in Darmstadt. „Die Casting-landschaft hat sich jedoch verändert und andere Formen des

Tele-darwinismu­s flimmern nun in die deutschen Wohnzimmer.“

Formate wie „Kitchen Impossible“und „Die Höhle der Löwen“zeigten, dass es nicht mehr nur allein um Show und Bühnenpräs­enz gehe, sondern auch ums Können, sagt Döveling. „The show must go on. Aber anders.“Gerade in Zeiten von Corona habe sich zudem das Freizeitve­rgnügen noch einmal stark verändert. „Vor allem junge Menschen sind nun noch mehr online, posten in sozialen Medien. Da hat man wenigstens noch das Gefühl, wenn man schon sonst isoliert ist, teilhaben zu können.“

Schon vor zehn Jahren gab es Abgesänge auf die vielen Casting-formate. Der Tübinger Medienwiss­enschaftle­r Bernhard Pörksen rief damals die „Casting-gesellscha­ft“aus, überall sei die Sucht nach Aufmerksam­keit allgegenwä­rtig. Millionen Menschen wollten endlich „stattfinde­n“und Promi werden, dafür sei ihnen auch der Preis nicht zu hoch, vor einem Millionenp­ublikum verhöhnt zu werden.

Viele Siegerinne­n und Sieger all dieser Shows aus den letzten 20 Jahren sind längst vergessen. Dennoch: In der Geschichte des Fernsehens knüpften die modernen Castingsho­ws der vergangene­n zwei Jahrzehnte an eine Tradition von Talentwett­bewerben in Deutschlan­d an. Schon in den späten 50er und frühen 60er Jahren zeigten sowohl ARD und ZDF als auch das Fernsehen der DDR Shows, in denen Kandidaten ihr

Talent unter Beweis stellten. Von 1972 bis 2017 gab es außerdem die vom Moderator Udo Werner ins Leben gerufene legendäre Kölner Talentprob­e am Tanzbrunne­n – eine als gnadenlos verschrien­e Open-air-veranstalt­ung am Rhein.

Die Kritik an den Tv-castings in den letzten Jahren zielte keineswegs auf die gewissenha­fte Talentsuch­e, sondern auf die Ausnutzung der Formate als sogenannte­s performati­ves Realitätsf­ernsehen. Damit ist Reality-tv gemeint, das ins echte Leben der Teilnehmer eingreift. Castingsho­ws wurden sehr oft zu einem Mix aus Soap, Comedy und konstruier­ten Dramen zurechtges­chnitten. Konflikte mit Jurymitgli­edern oder Mit-kandidaten wurden wichtiger als die Musik, das Modeln oder Sonstiges. Das Publikum wurde zum Voyeur und Zeuge moralische­r Grenzverle­tzungen. Das passiert nach wie vor, jedoch mit weniger Zuspruch. Millionen scheinen es leid zu sein.

Parallel dazu scheint sich eine neue Lust auf Seriosität entwickelt zu haben. Gerade in Zeiten der Pandemie punkten moralische­re Formate wie natürlich Nachrichte­n, Talkshows und Dokus, aber auch Satire wie die „heute-show“und das neuerdings monothemat­isch und sehr politische „ZDF Magazin Royale“mit Jan Böhmermann.

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Foto: Henning Kaiser/dpa Kandidaten stellen sich Juroren – das Casting-prinzip scheint im Fernsehen nicht mehr so recht zu funktionie­ren.
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Hat DSDS verlassen: der einstige Chef-juror Dieter Bohlen.

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