75 Jahre später
Wie die Waldsiedlung entstanden ist
Auf der Hochfläche über dem Brenzursprung fristete der Stürzelhof mit den Familien Konold und Laun ein eher einsames Dasein, bis ab dem Jahr 1938 – nur wenige 100 Meter entfernt – ein Arbeitslager der Nazis errichtet wurde. In diesen Holzbaracken fanden nach Kriegsende ab 1945 über 6000 Flüchtlinge aus Tschechien und Ungarn, aber auch Zeissianer aus Jena zumindest erst einmal ein Dach über dem Kopf.
Als „Attentatshausen“verspottet, musste ganz Königsbronn nach Georg Elsers Anschlag auf Adolf Hitler am 8. November 1939 schlimme Zeiten hinter sich bringen. Ob und inwieweit Elser vom Lager des Reichsarbeitsdienstes (RAD) beeindruckt war, ist weitgehend unbekannt. Auf jeden Fall marschierten Uniformierte in Kompaniestärke durchs Dorf und es absolvierten dort oben Hunderte junger Männer aus der Region eine paramilitärische Ausbildung an Pickel und Schaufel: Sie bauten unter anderem die Hoppeleshalde-straße.
Teils unvorstellbare Zustände herrschten nach Kriegsende im Mai 1945 laut Akten aus dem Königsbronner Gemeindearchiv im Stürzellager: War die Not schon bei der einheimischen Bevölkerung groß, wollten auch noch Flüchtlinge aus dem Osten versorgt sein. Allein von Oktober 1945 bis November 1946 wurden exakt 6116 Personen erfasst, die auch bis in die 1950er-jahre in Privathäusern zwangseinquartiert wurden.
Das Stürzellager bestand aus zwei kleineren Baracken mit Einzelzimmern und sieben größeren für je 60 Personen, einer Waschbaracke mit Duschgelegenheit und neun Brausen, einer Revierbaracke, einer Gerätebaracke sowie zwei Abortbaracken. Die Gebäude waren in verwahrlostem Zustand, alle Beleuchtungskörper und die Hälfte der Bettstellen sowie Strohsäcke fehlten. Ein Dokument verzeichnet: „Da die Flüchtlinge häufig in sehr schlechtem Schuhwerk ankamen, wurde auf Anordnung der Lagerleitung eine Schuhmacherwerkstatt eingerichtet.“
Die in Königsbronn einquartierte Usa-truppe überwachte die ersten Transporte und führte sie mit ihren Militärfahrzeugen vom Bahnhof ins Lager. Die eingetroffenen Flüchtlinge wurden dort gemeinschaftlich und einfachst verpflegt, jeden dritten Tag wurde Gelegenheit zum Duschen geboten.
Oft innerhalb weniger Stunden hatten die Leute im Sudetenland, der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien ihre Häuser verlassen müssen (Benes-dekrete). Viele mussten alles zurücklassen. Die meisten Transporte kamen dann direkt aus der Heimat der Flüchtlinge. Hier angekommen, wurde „sofort von zwei Drk-schwestern nach Ungeziefer, Krätze und Hauterkrankungen geschaut, dann zum Baden geschickt und später vom Lagerarzt auf Tuberkulose und ansteckende Krankheiten untersucht.“
Eine besondere Gruppe stellten die 64 Leute aus Jena dar. Als die amerikanischen und russischen Truppen im April 1945 in Thüringen einmarschierten, brachten die Amerikaner 430 Führungskräfte und Wissenschaftler von Zeiss, Schott, Siemens, Osram und Walther mit ihren Familien (circa 1300 Personen) noch schnell in den Westen. Deren Wissen um Raketenbau, Optik und Atomkraft wollte man sich unbedingt sichern. Warum sie ausgerechnet in Heidenheim landeten, ist eher unklar. Eine Version lautet, die Amerikaner hatten keinen Treibstoff mehr; eine andere, weil die Stadt Heidenheim unzerstört war und es hier in den ehemaligen Gebäuden der Polizeischule – heute steht auf dem Gelände die Voith-arena – Unterkünfte gab. Nicht uninteressant ist dabei auch, dass den Zeissianern in der Firma Voith Räume zum Arbeiten zur Verfügung gestellt wurden. Von 1954 an war Heidenheim auch Sitz der Carl-zeiss-stiftung.
Die Ansiedlung von Zeiss (damals Opton) erfolgte dann aber doch im scheinbar am besten geeigneten Oberkochen. Ab dem Jahr 1946 entwickelte sich das Werk zu einem Arbeitsplatzmagneten, der bald schon ein Vielfaches der Menschen beschäftigte, die Oberkochen an Einwohnern hatte. Für die musste Wohnraum geschaffen werden und so wurde der Häuserbau auch in der Waldsiedlung von Zeiss kräftig über Zuschüsse und Darlehen unterstützt. Sehr viele Zeissianer fanden hier im neuen Wohngebiet auf dem Stürzel eine neue Heimat. Im Tal in Königsbronn entstanden ab 1949/50 im Nordosten viergeschossige Wohnbocks der Kreisbaugesellschaft in der Carl-zeiss- und in der Silcherstraße; die neue Marienkirche (Weihe 1952) in der Wilhelm-hauff-straße bot den vielen katholischen Neuankömmlingen eine geistliche Heimat.
Vier der einstigen Holzbaracken stehen noch heute An der Reute, wenngleich das Holz durch Ytong-steine (Porenbeton) ersetzt und sie natürlich mehrfach renoviert und modernisiert wurden, aber der Grundriss ist der alte. „Früher hatten zwei Familien auf den 120 Quadratmetern, wobei der Keller mitgerechnet war, gewohnt“, erzählt der 71-jährige Otto Hobler, der mit seiner Frau seit 20 Jahren hier lebt und 40 Jahre bei Zeiss beschäftigt war.
Einer derer, die nach dem Krieg aus Jena nach Königsbronn kamen, war Eberhard König. Nachdem die Russen in Ostdeutschland das Sagen hatten, machte sich der 18-Jährige im Jahr 1955 mit dem Interzonenpass auf in Richtung Westen. In Itzelberg ist er sehr gut bei der damaligen Gemeindeschwester Amalie Kaufmann direkt am See untergekommen. „Sie war wie eine Mutter für mich“, denkt er dankbar zurück. Er hat bei Zeiss in Oberkochen in der Produktion von optischen Linsen und Prismen gute Arbeit gefunden und ist dann in die Arbeitsvorbereitung aufgestiegen. Nach Heirat und Geburt des Sohnes wohnt er seit 1968 in der Waldsiedlung; 1990 kam der Vorruhestand. „Wir sind überall und sofort gut aufgenommen worden, weil wir uns auch angepasst hatten. Viele andere Neuankömmlinge machten den Fehler, die eigene Kultur zu hoch zu halten“, meint der rüstige Rentner. Eine besondere Stellung hatte in der Zeit auch der Sport, speziell der Handball, der schnell viele und echte Freunde brachte. Gespielt wurde Feldhandball im Freien auf dem Sportplatz der Waldsiedlung. Der damalige Itzelberger Bürgermeister Erwin Richardon wird in diesem Zusammenhang immer wieder als treibende Kraft genannt.
Das bestätigt auch Ehrenbürger Hubert Langhammer, der in Königsbronn Gemeinderat und auch Bürgermeister-stellvertreter war. Er hatte bei Zeiss in Jena gelernt und erfahren, dass in Oberkochen ein neues Werk entstanden war. Der 19-Jährige machte sich 1948 zu Fuß und mit dem Rucksack über Nürnberg in den Westen auf. Er arbeitete sich bei Zeiss „ohne Studium“in den Bereichen Feinmechanik und Optik bis zum Produktionsleiter hoch. „Wir hatten nie Anpassungsprobleme, waren aber auch offen Neuem gegenüber“, resümiert der 92-Jährige.
Das war offensichtlich für viele Flüchtlinge der ersten Jahre ein großes Problem, zumal wohl viele insgeheim an eine Rückkehr in die alte Heimat glaubten. Aus einem Protokoll: „Menschen, die fast ihre ganze Habe verloren haben, stehen natürlich mit einem Gefühl des Neides und der Verbitterung jenen gegenüber, denen ein so herbes Schicksal erspart geblieben ist. Auch die religiöse Verschiedenheit wird in manchen Fällen eine Rolle spielen.“
Einen beachtlichen Weg hatte Erika Zschocke aus Dresden genommen, nachdem sie 1955 als 17-jährige, gelernte Feinoptikerin hier ankam und natürlich bei Zeiss arbeitete. Durch ihre offene Art fand sie schnell Kontakt und mit der Hochzeit mit dem aus Thüringen stammenden Rolf Busse im Jahr 1959 wurde eine Familie mit später drei Buben gegründet. „Das Leben war am Anfang schon sehr hart, aber man hat sich irgendwie arrangiert“,
erinnert sich die 84-Jährige. Ihr vor zehn Jahren verstorbener Mann Rolf war nicht nur ein guter Fußballer, sondern (wie auch sein Bruder Jörg) ein ausgezeichneter Ringer. Sie fand im Ort schnell Freundinnen und man traf sich ab 1966 und bis heute regelmäßig mit den Partnerinnen der Alte-herren-fußballer zum Ah-kränzchen im Café Madéleine oder Café Krüger und später im Café Dangelmaier; heute im Seeblick in Itzelberg. „Ich fühle mich als echte Königsbronnerin, nur die Sprache kann ich immer noch nicht!“, lacht sie.
Die Bevölkerung unterstützte die Ostflüchtlinge laut einer Aufstellung vom 9. April 1947; eine Geldsammlung erbrachte 6418 Reichsmark (ein Arbeiter verdiente damals monatlich 139 RM), für eine Weihnachtsfeier kamen für Spielsachen für die Kinder 251 Reichsmark zusammen; 1428 Textilien und 32 Paar Schuhe wurden gespendet. Aber es gab natürlich auch Ärger, vor allem, als der selbstbestimmte Lagerausschuss mit dem Verteilen von Kleiderzuweisungen nicht einverstanden war und auf einer Versammlung im Gasthaus Adler Bürgermeister Karl Eßlinger (1945 bis 48) der Lüge bezichtigte. Dieser wies die Vorwürfe scharf zurück und erinnerte daran, dass auch die einheimische Bevölke- rung immens unter den Kriegsfolgen zu leiden hätte und auch viele in Konzentrationslagern waren.
Es war eine schlimme Zeit, Essen gab es auf Lebensmittelkarten und auch nur dann, wenn vorhanden. Drei über 90-jährige Königsbronner konnten sich nicht an besondere Vorkommnisse mit den Neubürgern erinnern, es war eigentlich lang ein Nebeneinander. Allerdings wären die Eltern nicht erbaut gewesen, wenn die Tochter „an Fliachtleng“heim gebracht hätte. Am 20. Februar 1947 verzeichnet eine Auflistung 588 Fremde im Dorf; am 1. Mai 1939 betrug laut dieser die Zahl der Stammbevölkerung 1547.
Viele der Neuankömmlinge in der Waldsiedlung hatten einen soliden Beruf und waren sehr arbeitsam, sodass im Laufe der Zeit aus der einstigen Barackensiedlung (letzter Abbruch 1966) ein schmucker Ortsteil mit schönen neuen Häusern und gepflegten Gärten entstand. Es gab einen Kindergarten, einen kleinen Konsumladen und Pächter Blunck betrieb mit dem „Lustigen August“bis 1966 in einer der Baracken eine kleine Wirtschaft.
Auf dem nahen Sportplatz am Waldrand fand bis 1960 das Kinderfest statt: Der bunte Festzug bewegte sich von der Schule im Dorf über die Herwartstraße, vorbei an den Sieben Tannen etwa drei Kilometer bis hinauf auf den Stürzel. Der Kinderfestausschuss „bewilligte 1955 jedem Schüler ein Geschenk im Wert von 2 DM, Kinderschüler erhalten Geschenke im Wert von 1 DM. Auch die Oberschüler bekommen wie die übrigen Schüler 1 Wurst und 2 Brezeln.“Damals hatte eine D-mark die Kaufkraft von etwa 3,66 Euro.
Heute stellt sich die Waldsiedlung zusammen mit dem angrenzenden Töbele als attraktives und ruhiges Wohngebiet mit etwa 500 Einwohnern (gesamt Königsbronn ohne Itzelberg, Zang und Ochsenberg 4635), allerdings ohne weitere Infrastruktur, dar.