Stunde der Macher
Sehr oft treffen wir – auch gerade die Medien – die Aussage, ein Ereignis sei eine Zäsur, es verändere den Lauf der Dinge, die Sicht auf Themen und die Diskussionen in einer Gesellschaft. Meist schießen wir übers Ziel hinaus, können uns wenige Wochen später kaum noch daran erinnern. Erst die Zeit und der Abstand lassen klar werden, ob sich tatsächlich etwas verändert hat.
Die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands, an der Ahr und der Erft, braucht keinen Abstand, um beurteilen zu können, dass sie eine Zäsur in unserem Land sein wird. Nie zuvor sind bei einem Hochwasser im Binnenland mehr als 150 Tote – und diese Zahl wird weiter steigen – ums Leben gekommen. Niemals zuvor sind in der Fläche so viele Orte zerstört worden, haben so viele Menschen alles verloren. Und niemals zuvor sind sich alle Parteien und Experten einig: Verursacher ist nicht alleine eine grausame Laune der Natur. Der Mensch sorgt dafür, dass aus Phänomenen, die die Ausnahme sind, regelmäßig wiederkehrende Katastrophen werden. Selbst Bundesinnenminister Horst Seehofer, dessen CSU lange Schwierigkeiten mit dieser Einsicht hatte, lässt im Interview keinen Zweifel mehr daran.
Eine Zäsur im Denken der Menschen bedeutet auch immer eine Zäsur für die Politik. Diese Flut wird – auch wenn dies im Angesicht der Situation noch immer zynisch klingt – auch die Karten im Bundestagswahlkampf neu mischen. Dabei geht es vor allem darum, wer Antworten auf die Fragen der Menschen geben kann. Und zwar jetzt und nicht in ferner Zukunft.
Deshalb wird es den Grünen um Spitzenkandidatin Annalena Baerbock – entgegen vieler Erwartungen – schwerfallen, aus ihrer Position heraus wieder Boden gut zu machen. Natürlich muss der ökologische Umbau der Gesellschaft schneller vorangehen. Doch das zeitigt Erfolge erst in Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Nein, Katastrophen sind die Stunden der Macher. Das war 1962 bei der Hamburger Sturmflut und Helmut Schmidt so, und es war 2002 bei der Oderflut und Gerhard Schröder so. Der eine, Schmidt, begründete darauf nahezu seine gesamte politische Karriere, der andere, Schröder, wurde gegen alle Erwartungen erneut zum Kanzler gewählt.
Die Macher dieser Stunde heißen Armin Laschet und Olaf Scholz. Laschet ist in Nordrhein-westfalen qua Amt in der Pflicht zu handeln. Ihm kann nicht einmal der Vorwurf gemacht werden, er nütze die Situation
Den Grünen um Annalena Baerbock wird es schwerfallen, aus ihrer Position heraus Boden gut zu machen.
aus. Folgerichtig taucht er als sorgender und kümmernder Landesvater in den Krisenregionen auf. Scholz sitzt auf dem Geld, das die Menschen jetzt als Nothilfe brauchen. Er agiert als männliche Merkel: bedächtig, analytisch, der Krisenkenner und -lenker aus Berlin – mit einem Milliardenpaket im Hintergrund, das er als Finanzminister verteilen kann.
Der erste Reflex, eine Umweltkatastrophe ziehe die Wähler zu Scharen ins grüne Lager, wird sich deshalb als Trugschluss erweisen. Stattdessen ist eine Kompetenz gefragt, die die Grünen bisher – außer in Baden-württemberg – nie unter Beweis stellen konnten: die der zupackenden Krisenmanager.