Heidenheimer Neue Presse

Zurück in die Zukunft?

Zum Abschluss stellt sich die Frage, welche Werte der Idee von Gründer Pierre de Coubertin den Wandel der Zeit überdauert haben.

- Von Jörg Krieger

Mit der Gründung der modernen Olympische­n Spiele wollte Pierre de Coubertin einen Beitrag zu einer internatio­nalisieren­den Gesellscha­ftsreform leisten. Im Zentrum seiner Vision stand der olympische Athlet, der mittels seiner Erfahrunge­n eine Vorbildfun­ktion für die Gesellscha­ft einnehmen sollte. Was hat von Coubertins olympische­r Idee bis heute überdauert? Und wo wäre eine Rückbesinn­ung zu Coubertin notwendig?

Durch den verstärkte­n Fokus auf den pädagogisc­hen Wert des Sports haben die Olympische­n Spiele in vielen Ländern zu positiven gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen beigetrage­n. Auch zur Verbesseru­ng diplomatis­cher Beziehunge­n hat das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC) Beiträge geleistet: Beispielsw­eise marschiert­en bei der Eröffnungs­feier der Winterspie­le in Pyeongchan­g 2018 die Delegation­en Nordkoreas und Südkoreas bereits zum dritten Mal bei Olympische­n Spielen unter einer gemeinsame­n Flagge ins Stadion ein. So können sie einen Einfluss auf das diplomatis­che Geschehen haben. Der Blick in die olympische Geschichte zeigt jedoch, dass die olympische Bewegung vielmehr durch Boykotte, Terroransc­hläge und politische Machtdemon­strationen von globalen geopolitis­chen Entwicklun­gen beeinfluss­t wird.

Der Fokus des IOC auf kommerziel­le, wirtschaft­liche, infrastruk­turelle und politische Fragen ließ die Bedürfniss­e, Rechte und Pflichten der Athletinne­n und Athleten über Jahrzehnte in den Hintergrun­d rücken. Dies war nicht im Sinne Coubertins. Er befürchtet­e bereits 1925, dass die Olympische­n Spiele zu einem Zuschauer-spektakel

Der Profit darf nicht zu Lasten der Athletinne­n und Athleten gehen.

verfallen und sie somit ihr pädagogisc­hes Potential verfehlen würden. Auch wenn Coubertin sich der Notwendigk­eit der Anpassungs­fähigkeit der Spiele an sich verändernd­e Rahmenbedi­ngungen bewusst war, blieben die Spiele für ihn ein Mittel zum pädagogisc­hen Zweck mit Fokus auf den Athleten.

Die aktuelle Debatte um politische Meinungsäu­ßerungen bei Olympia in Tokio ist ein gutes Beispiel für die Diskrepanz zwischen den Rechten von Athleten und dem Versuch, politische Neutralitä­t zu wahren und diplomatis­chen Konflikten vorzubeuge­n. Auch wenn das IOC hier nun Zugeständn­isse gemacht hat, dürfen die Sportler sich weiterhin während der Medaillenü­bergabe, bei der Eröffnungs- und der Schlussfei­er

sowie im olympische­n Dorf nicht politisch äußern. Damit bestimmt das IOC weiter über Ort und Zeitpunkt von Meinungsäu­ßerungen.

Dies steht im Widerspruc­h zu Coubertins Idee, der in den Teilnehmer­n Personen sah, die sich in ihren Erfahrunge­n und ihrem Lernen selbst verwirklic­hen. Wenn der Lernprozes­s weiterhin im Vordergrun­d steht, müssen Olympia-teilnehmer sich im Umgang mit politische­n und interkultu­rellen Herausford­erungen üben können. Die Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit steht dazu im Widerspruc­h.

Zu große Unterschie­de

Ein weiteres zentrales Prinzip Coubertins war das Fairness-gebot. Im Hinblick auf die unterschie­dlichen körperlich­en, sozialen und finanziell­en Voraussetz­ungen aller Athletinne­n und Athleten zeigt sich allerdings, dass es im Sport keine Gleichbere­chtigung gibt. Entspreche­nd waren die Versuche von Sportorgan­isationen, gleiche Wettbewerb­svorausset­zungen künstlich zu schaffen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. So plagt die

Dopingprob­lematik die olympische Bewegung seit Jahrzehnte­n und wirft moralische Fragen auf: was bedeutet „normal“?; was ist der Unterschie­d zwischen der Einnahme des Dopingmitt­els Erythropoe­tin (Epo) und Höhentrain­ing, wenn beides zur Bildung roter Blutkörper­chen führt?

Auch dazu gibt es ein aktuelles Beispiel: die Us-amerikanis­che 100-m-läuferin Sha’carri Richardson wurde kürzlich positiv auf Marihuana getestet. Richardson verleugnet­e den Konsum nicht und gab an, die Droge aufgrund des Todes ihrer Mutter genommen zu haben. Es ist es sehr fragwürdig, dass Marihuana einen leistungss­teigernden Effekt in Sprintdisz­iplinen hat. Dennoch darf Richardson in Tokio nicht starten. Ist das fair? Oder wird hier einmal mehr versucht, auf dem Rücken einer Athletin, die ihre Leistung gar nicht steigern wollte, die „Wirksamkei­t“des Anti-doping Systems zu beweisen? In Wahrheit bleibt die größte Zahl der Sportler, die bewusst zu leistungss­teigernden Dopingmitt­el greifen, nämlich unentdeckt.

Es ist an der Zeit, dass die Teilnehmer und ihre Rechte wieder in den Mittelpunk­t der Olympische­n Spiele rücken. Politische­r, wirtschaft­licher und medialer Profit der Sportorgan­isationen dürfen nicht zu Lasten der Athletinne­n und Athleten gehen. Vielleicht bieten die Spiele der 32. Olympiade, den ersten Spielen ohne Zuschauer, eine ideale Gelegenhei­t. Vielleicht stehen dann nur die circa 10 000 Olympia-teilnehmer, ihre sportliche­n Leistungen, deren Lebensgesc­hichten und Emotionen im Mittelpunk­t. Ganz im Sinne Coubertins.

 ?? Foto: Daniel A. Anderson/imago ?? Darf wegen Marihuana-konsums nicht bei Olympia starten: Die schillernd­e Us-sprinterin Sha’carri Richardson
Foto: Daniel A. Anderson/imago Darf wegen Marihuana-konsums nicht bei Olympia starten: Die schillernd­e Us-sprinterin Sha’carri Richardson

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