Heidenheimer Neue Presse

Roman Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran (Folge 16)

- Fortsetzun­g folgt © Kiepenheue­r & Witsch

Warum nicht Nahid, die Frau, die die Bücher und die Sprache liebt und deren wahren Namen ich endlich herausbeko­mmen habe, weil ich ihren Freundinne­n lange genug heimlich zugehört habe. Wie sie lachten und die beste Freundin sie einmal aus Versehen nicht mit ihrem Decknamen ansprach, als sie sagte, Nahid, du siehst müde aus, wo treibst du dich nachts rum?, und Nahid sagte, sie habe die ganze Nacht die Gedichte von Shamlou gelesen und nicht schlafen können, und ich wusste endlich, sie heißt Nahid und sie liest Shamlou. Und im nächsten Moment ist das alles völlig egal. Denn im nächsten Moment sagt die Fremde, es ist alles anders gelaufen, wir konnten eine Kaserne erobern, und wir haben ein Haus auf dem Land besetzt, wir bereiten uns auf den Kampf um die nächsten Kasernen vor. Entweder du unterstütz­t den Kampf oder du nimmst den nächsten Bus zurück und überlässt mir das Auto.

Und dann geht alles ganz schnell. Wo wir eben noch dachten, wir müssten vor allen Dingen sitzen und reden und lesen und sprechen und planen und planen und planen, ändert sich die Strategie unserer Führer, und wir greifen wieder nach den Waffen, planen die Offensive gegen die Geistliche­n, wollen die Straßen zurück, wollen unsere Rechte zurück, sind wir doch wieder mitten im Kampf. Plötzlich fragst du dich, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, immer nur zu sitzen und zu reden, hast du gedacht, eine Revolution setzt sich von selbst fort, nur mit dem Wissen in den Köpfen und den gedruckten Worten im Kofferraum? Hast du gedacht, politische Aktionen sind schon allein deshalb politisch, weil sie geheim sind? Die anderen haben nicht nur die Stimmen in den Autoradios, und sie haben nicht nur die Städte, sie haben nicht nur die Massen auf den Demonstrat­ionen und die Worte in den Medien. Worauf hast du gewartet und warum dachtest du, die Flugblätte­r wären wichtig, wenn sie auf der anderen Seite all das haben, was mal der Armee des Schahs gehörte? Wo das doch die stärksten Mittel sind, mit denen sie ihre Macht aufrechter­halten, sich als neuen Geheimdien­st, als Wächter der Revolution betiteln, nur um unsere Gruppen offiziell verbieten zu lassen?

Plötzlich weißt du nicht mehr, wann aus dem gemeinsame­n Kampf während der Revolution ein Kampf gegeneinan­der um die neue Herrschaft geworden ist. Aber was dir sofort einfällt, ist: dass es ursprüngli­ch mal ums Kämpfen ging, und also kann sich die Frage gar nicht stellen, ob kämpfen oder zurückkehr­en, und du steigst in das Auto, fährst den Weg in eine Ortschaft, die du nicht kennst, von der du noch nie gehört hast, von der du nur weißt: Sie wurde von den reichen Landbesitz­ern verlassen, als der Schah das Land verließ, und wir werden sie wiederbele­ben mit dem wahren Geist der Revolution, um jene zu stoppen, die sich zu Unrecht Revolution­äre nennen.

Was in der Stadt die leeren Gefängniss­e waren, sind auf dem Land die verlassene­n Häuser der Nutznießer. Das Haus hat dem größten Landbesitz­er des Ortes gehört, der der Monarchie seinen Reichtum verdankte und mit der Monarchie fliehen musste, vermutlich in ein vom Kapitalism­us ausgezehrt­es Land, wo er hingehört. Zwei Stockwerke, auf die wir verteilt sind. Wo sein Arbeitszim­mer war, sind unsere Büros. Wo der Salon war, finden unsere Sitzungen statt. Wo die Kinder schliefen, schlafen wir. Der Zigaretten­rauch hängt zwischen den klimatisie­rten Wänden, auf den Teppichen liegen unsere Waffen, die Kellerräum­e sind ein Arsenal all dessen, was wir damals aus den Kasernen des Schahs ergatterte­n. Unsere Arme sind so muskulös wie zu Militärzei­ten, unser Schlaf so kurz und effektiv wie möglich. Immer zwei stehen vor dem Haus und halten Wache, immer zwei auf dem Dach. Das Dorf ist tagsüber wie ausgestorb­en, die Bauern bewirten ihr Land mit unserer Hilfe. Wo anfangs die Skepsis und ein Runzeln der Stirn das Ernten und Jäten begleitete­n, schweben jetzt unsere Lieder über dem heißen Boden. Die Luft ist eine andere als zu Hause in Teheran, die Abgase fehlen, und nachts kühlt der Boden stark ab, nur um sich morgens zum ersten Vogelruf erneut mit Hitze aufzuladen. Es ist Sommer geworden, ohne dass ich es mitbekomme­n habe. Der Tag, an dem ich Tara und ihren Vater kennenlern­te, war der erste Tag der Sommerferi­en.

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