Vogelfrei
Mein Wahlmotto: Ich habe keine Angst und ihr habt keine Angst!
Oppositionelle
Es wird immer Leute geben, die politisches Potenzial haben und nicht anders können, als es zu verwirklichen.
Sankt Petersburg gilt als die westlichste und intellektuellste Stadt des Landes. Aber auch hier stehen immer mehr Oppositionelle vor der Wahl zwischen Flucht ins Private, ins Ausland oder einem halblegalen Dasein als Randgruppe. Eine Suche nach den letzten Demokraten.
Irina sitzt in dunkelblauen Badelatschen auf einem Plastikstuhl in ihrem Wahlkampfbüro an der Pionerskaya und lässt sich von einer Mitstreiterin schminken, für neue Wahlfotos. Die Augen der 32-Jährigen leuchten, sie erzählt, wie sie mit ihren Helfern Hausflure abklappert und mit Rentnern Wohnnebenkosten diskutiert. „Wer gewinnen will, kann den Wahlkampf gar nicht früh genug anfangen!“Sie habe schon vergangenen Herbst gewusst, dass sie im September für das Petersburger Stadtparlament kandidieren wolle. Und, dass man ihr Steine in den Weg legen werde. Aber sie lächelt. Auf ihrem weißen T-shirt prangt in Rot ihr Wahlmotto: „Ich habe keine Angst und ihr habt keine Angst!“
Irina Fatjanowa, ledig, gelernte Soziologin, ist eine Geächtete, eine, die in Russland eigentlich keine Politik mehr machen darf. Vor Kurzem hat der Parteitag der liberalen aber oft ängstlichen „Jabloko“-partei beschlossen, sie doch nicht, wie versprochen, als Kandidatin aufzustellen. Nun muss sie als Unabhängige Unterschriften sammeln. Unterschriften, die die Behörden bei der Registrierung gern für ungültig erklären, um unbotmäßige Kandidaten zu streichen. Es ist daher unklar, ob Irina diese Hürde überhaupt erreicht.
Die Staatsmacht mag ihre Kandidatur obendrein schon früher verbieten, wegen Zugehörigkeit zu einer extremistischen Organisation. Denn Irina war die letzte Koordinatorin des Petersburger Stabs von Alexei Nawalny. Und im Juni hat ein Moskauer Gericht alle Stäbe und Stiftungen des inhaftierten Oppositionsführers als extremistisch verboten.
Kommunikation über geheime Chats
Mehreren früheren Nawalny-aktivisten wurde die Kandidatur zur Staatsduma schon wegen „Extremismus“untersagt. Den Petersburger Liberalen Andrei Piwowarow hat die Jabloko-partei trotzdem als Kandidaten aufgestellt. Bittere Ironie: Piwowarow sitzt in U-haft, wegen Beteiligung am „Offenen Russland“, laut Staatsmacht eine „unerwünschte Organisation“. Das investigative Portal proekt.ru wurde gerade ebenso zur unerwünschten Organisation erklärt, also praktisch verboten. Seine Reporter hatten unter anderem über das Luxusleben einer früheren Petersburger Geliebten Wladimir Putins und ihrer Tochter berichtet.
Trotz der wütenden Pandemie tobt das Leben in Petersburg. Auf den Kanälen drängen sich gut besetzte Ausflugsboote, die Boulevards sind voll junger Menschen, E-roller flitzen umher, viele Mädchen tragen kein Make-up, dafür bunt gefärbte Haare. Die Nächte sind weiß, ein bärtiger Mann mit Schlips und karierten
Shorts spaziert über die Kronwerskaja und singt laut Metallica: „Every day for us is something new. Open mind for a different view.“
Petersburg gilt als die intellektuellste und westlichste Stadt Russlands. Auf altmodische Weise. Überall im russischen Internet kann man die Kultfilme und Zeitungsskandale der übrigen Welt konsumieren. Aber hier laufen auch im Kino alte Woody-allen-streifen, im Bücherregal des Hotels steht sehr klein gedruckt Orwells „1984“. An den Kiosken liegen noch echte, auf Papier gedruckte Zeitungen aus. Auch das Oppositionsblatt „Nowaja Gaseta“. Wer die Zeitung aufschlägt, stößt auf eine fünf Spalten breite Überschrift: „Das Sterben der russischen Opposition.“
Es ist schwierig geworden, Oppositionelle zu treffen. Die Telefonnummern der Nawalny-aktivisten fanden sich bis vor Kurzem im Internet. Jetzt schweigen die meisten auch auf Facebook-anfragen, Irina erreichen wir erst über einen ebenfalls oppositionellen Hochschuldozenten. Er bittet über Telegram, den Messenger-dienst der Nawalny-stäbe, um Links zu den Artikeln unserer Zeitung über Russland, schickt dann Irinas Telegram-adresse. Schon bevor Nawalnys Stäbe verboten wurden, liefen ihre Projekte über geheime Chats und gesicherte Netzwerkverbindungen. Per Telegram teilt Irinas Kontaktmann auch mit, er selbst wolle nicht mit Journalisten reden: „Unter den heutigen Bedingungen strebe ich nicht nach Publizität.“Der Smiley dahinter schaut traurig.
Die Wahlkämpfe um Stadtrat und Staatsduma kommen nicht in Gang, es fehlt im Stadtbild an Politik, bis auf ein paar Graffiti. An der Wand eines Transformatorenhäuschens im Puschkarski-garten erschien Ende April das lächelnde Gesicht Nawalnys, die Behörden ließen es eilig überstreichen. Vor Kurzem tauchte dort dann ein Transparent mit 19 Porträts ermordeter Menschenrechtler, Journalisten und Oppositioneller auf. Auch dieses wurde prompt entfernt, ein Untergrundkünstler zwischenzeitlich festgenommen.
Treffen mit Oleg, einem Geschichtsstudenten und früheren Nawalny-aktivisten, in einem belgischen Pub auf der Wassiljewski-insel. Seine Maske behält er während des Gesprächs an, was für russische Verhältnisse mehr als ungewöhnlich ist. Auch er erzählt von Festnahmen, von Geldstrafen für Einzelmahnwachen, die sich kein Student mehr leisten will. „Der Preis, den du zahlst, wenn du protestieren willst, ist viel höher geworden.“Bußgelder für die Teilnahme an nicht genehmigten Demos fangen bei 20 000 Rubel an, das entspricht einem Drittel eines Petersburger Durchschnittslohns.
„Oppositionelle haben heute drei Möglichkeiten: ins Private fliehen, ausreisen, oder ein Randgruppendasein fristen“, sagt Oleg. Er denkt daran, seinen Doktor im Ausland zu machen. „Auswandern will ich nicht. Aber was schadet es, wenn ich in Berkeley Seminare halte, Geld an die russische Opposition schicke und wiederkomme, sobald der Opa weg ist?“Mit Opa meint Oleg Wladimir Putin.
31 Grad in Sankt Petersburg, die Vorhänge in Sofias Wohnzimmer sind wegen der Hitze zugezogen, auf dem Tisch steht eine Kirschschale. Das Halbdunkel hat etwas Konspiratives. Sofia ist 50, eine Frau mit klugen Augen, Redakteurin eines Wissenschaftsjournals. Sie erzählt von der letzten Kundgebung für Nawalny im April, die Greiftrupps der Polizisten stürzten sich auf Teilnehmer und Passanten, bevor sich überhaupt eine Menschenmenge versammelt hatte. 866 Festnahmen. Junge Mädchen baten Sofia und ihren Mann, sich hinter ihnen verstecken zu dürfen.
Sofia hat jahrelang Geld an Nawalnys Antikorruptionsstiftung überwiesen, auch ihr könnte deshalb ein Extremismus-verfahren drohen. Seit Gorbatschows Perestroika habe sie geträumt, dass Russland Teil der zivilisierten Welt werde. „Ich fühle mich um mein halbes Leben betrogen.“Sofia hat drei erwachsene Söhne, fürchtet bei jeder Demo, dass es einen erwischt, macht sich aber auch Sorgen, dass der Jüngste, der in Stockholm arbeitet, bei Protesten vor der russischen Botschaft gefilmt worden ist und beim nächsten Heimaturlaub vorgeladen wird. Geld überweist sie trotzdem weiter – jetzt an das liberale Nachrichtenportal meduza.io, das ums Überleben kämpft, seit es die Behörden zum „ausländischen Agenten“erklärt haben.
Absurde Strafen häufen sich
Alexander Kirpitschew trägt einen Kinnbart, erinnert mit seiner goldenen Nickelbrille an den jungen Trotzki. Er lässt sich gerne beim Kaffee in einer Bäckerei am Sennaja-platz fotografieren. Einsatz für die Demokratie und Geheimniskrämerei passten nicht zusammen, sagt er. Alexander arbeitete früher auch im Petersburger Nawalny-stab, auch er verhandelte mit Jabloko über eine Kandidatur zum Stadtparlament, auch er bekam am Ende eine Absage. „Dabei fiel wieder der Name Nawalny.“
Der studierte Jurist und Ingenieur, der schon als Sozialpädagoge und Cheftechniker arbeitete, sagt, er zähle nicht mehr, wie oft man ihn gefeuert hat, weil er aktiver Oppositioneller ist. Er hält es für aussichtslos, Unterschriften zu sammeln, will jetzt Unterstützung für einen Jabloko-kandidaten organisieren. Er glaubt, die Opposition in Russland werde weiterleben. „Es wird immer Leute geben, die politisches Potenzial haben und nicht anders können, als es zu verwirklichen.“Es gelte, die Balance zwischen eigenen Aktionen und den ungeschriebenen Gesetzen der Sicherheitsorgane zu finden.
Die Wissenschaftsjournalistin Sofia zeigt auf ihrem Handy das Foto eines Mannes, der vor zwei Polizisten mit pantomimisch ausgebreiteten Armen ein imaginäres Schild hochhält. „Er wurde festgenommen, weil er ein unsichtbares Plakat mit regierungsfeindlichen Losungen gehalten habe.“Sie und ihre Freunde lachten seit 20 Jahren über die immer neuen Absurditäten, die der Staatsapparat produziere, sagt sie. Das Schlimme aber sei, wie sich absurde Strafen und Verbote häuften, wie immer mehr Oppositionelle zu Vogelfreien würden, im Gefängnis landeten oder vergiftet würden. „Ich denke oft an Deutschland. Im Dritten Reich haben die Massenmorde auch nicht gleich angefangen, sondern es ist langsam, Schritt für Schritt, schlimmer geworden.“