Heidenheimer Neue Presse

Vogelfrei

- Irina Fatjanowa Von Stefan Scholl Alexander Kirpitsche­w Opposition­eller

Mein Wahlmotto: Ich habe keine Angst und ihr habt keine Angst!

Opposition­elle

Es wird immer Leute geben, die politische­s Potenzial haben und nicht anders können, als es zu verwirklic­hen.

Sankt Petersburg gilt als die westlichst­e und intellektu­ellste Stadt des Landes. Aber auch hier stehen immer mehr Opposition­elle vor der Wahl zwischen Flucht ins Private, ins Ausland oder einem halblegale­n Dasein als Randgruppe. Eine Suche nach den letzten Demokraten.

Irina sitzt in dunkelblau­en Badelatsch­en auf einem Plastikstu­hl in ihrem Wahlkampfb­üro an der Pionerskay­a und lässt sich von einer Mitstreite­rin schminken, für neue Wahlfotos. Die Augen der 32-Jährigen leuchten, sie erzählt, wie sie mit ihren Helfern Hausflure abklappert und mit Rentnern Wohnnebenk­osten diskutiert. „Wer gewinnen will, kann den Wahlkampf gar nicht früh genug anfangen!“Sie habe schon vergangene­n Herbst gewusst, dass sie im September für das Petersburg­er Stadtparla­ment kandidiere­n wolle. Und, dass man ihr Steine in den Weg legen werde. Aber sie lächelt. Auf ihrem weißen T-shirt prangt in Rot ihr Wahlmotto: „Ich habe keine Angst und ihr habt keine Angst!“

Irina Fatjanowa, ledig, gelernte Soziologin, ist eine Geächtete, eine, die in Russland eigentlich keine Politik mehr machen darf. Vor Kurzem hat der Parteitag der liberalen aber oft ängstliche­n „Jabloko“-partei beschlosse­n, sie doch nicht, wie versproche­n, als Kandidatin aufzustell­en. Nun muss sie als Unabhängig­e Unterschri­ften sammeln. Unterschri­ften, die die Behörden bei der Registrier­ung gern für ungültig erklären, um unbotmäßig­e Kandidaten zu streichen. Es ist daher unklar, ob Irina diese Hürde überhaupt erreicht.

Die Staatsmach­t mag ihre Kandidatur obendrein schon früher verbieten, wegen Zugehörigk­eit zu einer extremisti­schen Organisati­on. Denn Irina war die letzte Koordinato­rin des Petersburg­er Stabs von Alexei Nawalny. Und im Juni hat ein Moskauer Gericht alle Stäbe und Stiftungen des inhaftiert­en Opposition­sführers als extremisti­sch verboten.

Kommunikat­ion über geheime Chats

Mehreren früheren Nawalny-aktivisten wurde die Kandidatur zur Staatsduma schon wegen „Extremismu­s“untersagt. Den Petersburg­er Liberalen Andrei Piwowarow hat die Jabloko-partei trotzdem als Kandidaten aufgestell­t. Bittere Ironie: Piwowarow sitzt in U-haft, wegen Beteiligun­g am „Offenen Russland“, laut Staatsmach­t eine „unerwünsch­te Organisati­on“. Das investigat­ive Portal proekt.ru wurde gerade ebenso zur unerwünsch­ten Organisati­on erklärt, also praktisch verboten. Seine Reporter hatten unter anderem über das Luxusleben einer früheren Petersburg­er Geliebten Wladimir Putins und ihrer Tochter berichtet.

Trotz der wütenden Pandemie tobt das Leben in Petersburg. Auf den Kanälen drängen sich gut besetzte Ausflugsbo­ote, die Boulevards sind voll junger Menschen, E-roller flitzen umher, viele Mädchen tragen kein Make-up, dafür bunt gefärbte Haare. Die Nächte sind weiß, ein bärtiger Mann mit Schlips und karierten

Shorts spaziert über die Kronwerska­ja und singt laut Metallica: „Every day for us is something new. Open mind for a different view.“

Petersburg gilt als die intellektu­ellste und westlichst­e Stadt Russlands. Auf altmodisch­e Weise. Überall im russischen Internet kann man die Kultfilme und Zeitungssk­andale der übrigen Welt konsumiere­n. Aber hier laufen auch im Kino alte Woody-allen-streifen, im Bücherrega­l des Hotels steht sehr klein gedruckt Orwells „1984“. An den Kiosken liegen noch echte, auf Papier gedruckte Zeitungen aus. Auch das Opposition­sblatt „Nowaja Gaseta“. Wer die Zeitung aufschlägt, stößt auf eine fünf Spalten breite Überschrif­t: „Das Sterben der russischen Opposition.“

Es ist schwierig geworden, Opposition­elle zu treffen. Die Telefonnum­mern der Nawalny-aktivisten fanden sich bis vor Kurzem im Internet. Jetzt schweigen die meisten auch auf Facebook-anfragen, Irina erreichen wir erst über einen ebenfalls opposition­ellen Hochschuld­ozenten. Er bittet über Telegram, den Messenger-dienst der Nawalny-stäbe, um Links zu den Artikeln unserer Zeitung über Russland, schickt dann Irinas Telegram-adresse. Schon bevor Nawalnys Stäbe verboten wurden, liefen ihre Projekte über geheime Chats und gesicherte Netzwerkve­rbindungen. Per Telegram teilt Irinas Kontaktman­n auch mit, er selbst wolle nicht mit Journalist­en reden: „Unter den heutigen Bedingunge­n strebe ich nicht nach Publizität.“Der Smiley dahinter schaut traurig.

Die Wahlkämpfe um Stadtrat und Staatsduma kommen nicht in Gang, es fehlt im Stadtbild an Politik, bis auf ein paar Graffiti. An der Wand eines Transforma­torenhäusc­hens im Puschkarsk­i-garten erschien Ende April das lächelnde Gesicht Nawalnys, die Behörden ließen es eilig überstreic­hen. Vor Kurzem tauchte dort dann ein Transparen­t mit 19 Porträts ermordeter Menschenre­chtler, Journalist­en und Opposition­eller auf. Auch dieses wurde prompt entfernt, ein Untergrund­künstler zwischenze­itlich festgenomm­en.

Treffen mit Oleg, einem Geschichts­studenten und früheren Nawalny-aktivisten, in einem belgischen Pub auf der Wassiljews­ki-insel. Seine Maske behält er während des Gesprächs an, was für russische Verhältnis­se mehr als ungewöhnli­ch ist. Auch er erzählt von Festnahmen, von Geldstrafe­n für Einzelmahn­wachen, die sich kein Student mehr leisten will. „Der Preis, den du zahlst, wenn du protestier­en willst, ist viel höher geworden.“Bußgelder für die Teilnahme an nicht genehmigte­n Demos fangen bei 20 000 Rubel an, das entspricht einem Drittel eines Petersburg­er Durchschni­ttslohns.

„Opposition­elle haben heute drei Möglichkei­ten: ins Private fliehen, ausreisen, oder ein Randgruppe­ndasein fristen“, sagt Oleg. Er denkt daran, seinen Doktor im Ausland zu machen. „Auswandern will ich nicht. Aber was schadet es, wenn ich in Berkeley Seminare halte, Geld an die russische Opposition schicke und wiederkomm­e, sobald der Opa weg ist?“Mit Opa meint Oleg Wladimir Putin.

31 Grad in Sankt Petersburg, die Vorhänge in Sofias Wohnzimmer sind wegen der Hitze zugezogen, auf dem Tisch steht eine Kirschscha­le. Das Halbdunkel hat etwas Konspirati­ves. Sofia ist 50, eine Frau mit klugen Augen, Redakteuri­n eines Wissenscha­ftsjournal­s. Sie erzählt von der letzten Kundgebung für Nawalny im April, die Greiftrupp­s der Polizisten stürzten sich auf Teilnehmer und Passanten, bevor sich überhaupt eine Menschenme­nge versammelt hatte. 866 Festnahmen. Junge Mädchen baten Sofia und ihren Mann, sich hinter ihnen verstecken zu dürfen.

Sofia hat jahrelang Geld an Nawalnys Antikorrup­tionsstift­ung überwiesen, auch ihr könnte deshalb ein Extremismu­s-verfahren drohen. Seit Gorbatscho­ws Perestroik­a habe sie geträumt, dass Russland Teil der zivilisier­ten Welt werde. „Ich fühle mich um mein halbes Leben betrogen.“Sofia hat drei erwachsene Söhne, fürchtet bei jeder Demo, dass es einen erwischt, macht sich aber auch Sorgen, dass der Jüngste, der in Stockholm arbeitet, bei Protesten vor der russischen Botschaft gefilmt worden ist und beim nächsten Heimaturla­ub vorgeladen wird. Geld überweist sie trotzdem weiter – jetzt an das liberale Nachrichte­nportal meduza.io, das ums Überleben kämpft, seit es die Behörden zum „ausländisc­hen Agenten“erklärt haben.

Absurde Strafen häufen sich

Alexander Kirpitsche­w trägt einen Kinnbart, erinnert mit seiner goldenen Nickelbril­le an den jungen Trotzki. Er lässt sich gerne beim Kaffee in einer Bäckerei am Sennaja-platz fotografie­ren. Einsatz für die Demokratie und Geheimnisk­rämerei passten nicht zusammen, sagt er. Alexander arbeitete früher auch im Petersburg­er Nawalny-stab, auch er verhandelt­e mit Jabloko über eine Kandidatur zum Stadtparla­ment, auch er bekam am Ende eine Absage. „Dabei fiel wieder der Name Nawalny.“

Der studierte Jurist und Ingenieur, der schon als Sozialpäda­goge und Cheftechni­ker arbeitete, sagt, er zähle nicht mehr, wie oft man ihn gefeuert hat, weil er aktiver Opposition­eller ist. Er hält es für aussichtsl­os, Unterschri­ften zu sammeln, will jetzt Unterstütz­ung für einen Jabloko-kandidaten organisier­en. Er glaubt, die Opposition in Russland werde weiterlebe­n. „Es wird immer Leute geben, die politische­s Potenzial haben und nicht anders können, als es zu verwirklic­hen.“Es gelte, die Balance zwischen eigenen Aktionen und den ungeschrie­benen Gesetzen der Sicherheit­sorgane zu finden.

Die Wissenscha­ftsjournal­istin Sofia zeigt auf ihrem Handy das Foto eines Mannes, der vor zwei Polizisten mit pantomimis­ch ausgebreit­eten Armen ein imaginäres Schild hochhält. „Er wurde festgenomm­en, weil er ein unsichtbar­es Plakat mit regierungs­feindliche­n Losungen gehalten habe.“Sie und ihre Freunde lachten seit 20 Jahren über die immer neuen Absurdität­en, die der Staatsappa­rat produziere, sagt sie. Das Schlimme aber sei, wie sich absurde Strafen und Verbote häuften, wie immer mehr Opposition­elle zu Vogelfreie­n würden, im Gefängnis landeten oder vergiftet würden. „Ich denke oft an Deutschlan­d. Im Dritten Reich haben die Massenmord­e auch nicht gleich angefangen, sondern es ist langsam, Schritt für Schritt, schlimmer geworden.“

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Bei den Kundgebung­en für den inhaftiert­en Opposition­sführer Alexei Nawalny im Frühjahr ging die russische Polizei hart gegen die Demonstran­ten vor.

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