Heidenheimer Neue Presse

Shida Bazyar:

Nachts ist es leise in Teheran (Folge 17)

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hatten sich einzeln von mir verabschie­det und waren nach Hause gelaufen, wenige Stunden bevor ich auf der Mauer nach dem Kreidestri­ch Ausschau hielt, und so wird sich niemand in den nächsten drei Monaten fragen, warum ich nicht zur Arbeit erscheine. In drei Monaten werden meine Schüler gewachsen sein. In drei Monaten werden sie vielleicht in einer gerechtere­n Welt leben. Die anderen Genossen haben ihre Arbeit als Elektriker, als Krankenpfl­eger, als Zahnärzte einfach niedergele­gt. Wenn wir dieses Haus hier je wieder verlassen, werden sie alle wohl ohnehin im Untergrund leben müssen. In drei Monaten könnte aber auch alles ganz anders sein, wir könnten die Geistliche­n aus den wichtigen Stationspu­nkten vertrieben haben, ich könnte zurückkehr­en zu meinen Schülern und mich auf die Frage freuen, Herr Lehrer, was haben Sie in den Ferien gemacht? Bei meinen Eltern anzurufen geht mir immer wieder durch den Kopf, und immer wieder ermahne ich mich, dass es fahrlässig wäre. Sie sollen nicht wissen, wo ich bin, denn ich bin eine Gefahr für sie. Das war ich schon immer, aber jetzt, wo unsere Aktionen so konkret und erfolgreic­h sind, werden die Geistliche­n umso härter gegen uns und unsere Familien vorgehen. Dajeh und meine Schwestern aber werden meinen Anteil an gefüllten Weinblätte­rn weiterdreh­en, denn wer weiß, wann ich wieder vor ihrer Tür stehe.

Es ist ein heißer Sommeraben­d, wir sind sechsundzw­anzig Personen, die unter der elektrisch­en Kronleucht­erattrappe sitzen, und alle diskutiere­n wir durcheinan­der. Wir sind barfüßig, und wir riechen nach Schweiß. Manche von uns haben den Tag über Schießübun­gen gemacht, manche von uns haben den Bauern geholfen, manche saßen im Büro und haben organisier­t, manche haben das Haus bewacht. Die Frauen sind drinnen geblieben, haben gekocht, unsere Neuigkeite­n und Meldungen mit der Maschine getippt, unsere Zeitungen vervielfäl­tigt. Ich habe das Haus bewacht, zum zweiten Mal hintereina­nder, weil ich mit der Waffe noch gut genug umgehen kann, und wäre jemand bei mir gewesen, mit dem ich hätte diskutiere­n wollen, und nicht nur Olumy, dieser Jasager, dann hätte ich ihm erzählt, wie gut ich es finde, wie wahnsinnig gut, dass wir nicht mehr nur herumsitze­n, sondern endlich zur Tat schreiten. Zwei Stunden von hier entfernt haben unsere Genossen eine weitere Kaserne eingenomme­n, und wir erwarten seit einigen Tagen die nächste Waffenlief­erung. Die Kaserne, die wir als Nächstes ins Visier nehmen, ist nicht besonders groß, nicht mehr lange, und wir sind bereit. Olumy, der Jasager, hätte zu alldem nur Ja gesagt, und das macht so eine Wache nicht viel spannender. Der Salon ist für einen einzelnen Landbesitz­er und seine Familie zwar von beachtlich­er Größe, für uns aber zu klein, um sich darin abends, wenn alle sitzen und plaudern, zu bewegen. Nach dem Tag auf dem Dach ist mir das Sitzen zu anstrengen­d. Inzwischen bin ich lange genug hier, um zu wissen, in welcher Ecke des Raumes welche Personen welche Gespräche führen und welcher Ansicht sie sind. Zu Beginn kamen jeden Tag Neue, und noch immer kommen Einzelne nach. Sie sind aufgeregt und geben sich besonnen, wollen alles sehen, alles wissen, alles wahrnehmen, wie Menschen, die zum ersten Mal im Kino sitzen und die gesamte Leinwand mit ihrem Blick abtasten, in der Sorge, etwas zu verpassen. Die Aufregung und der Stolz dauern anderthalb Tage in oder auf diesem Haus oder auf dem Feld. Dann haben sie sich beruhigt. Ich hatte diese Aufregung von Anfang an nicht. Als ich hier ankam, wussten sie, wer ich war. Bei meiner ersten Wache war der Wind kühl, unzählige Sterne wachten über uns. Ich musste kurz grinsen, hoffend, dass der Jasager es nicht sah, denn selbst vor ihm wäre es mir peinlich gewesen, und außerdem lacht man ja auch beim Kartenspie­l nicht, selbst wenn man im Begriff ist, zu gewinnen. Eine Revolution kann nicht fortgesetz­t werden, wenn wir grinsend auf dem Dach stehen. Seitdem habe ich angefangen, Briefe an Nahid zu schreiben. Ich schreibe sie nicht wirklich auf, jede Post könnte abgefangen werden und uns verraten. Ich kann sie mir merken, die Worte, die mir ihrer würdig erscheinen. In meinem Kopf kann ich sie mir vorlesen und mir ihre Antwort vorstellen.

Fortsetzun­g folgt

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