„Wichtig ist, dass ich weiterleben kann“
Ihre Brustkrebsdiagnose habe sie nicht übermäßig geschockt, sagt die Frau des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Ein Gespräch über den offenen Umgang mit Krankheit, die Kraft der Zuversicht und das Glück, die Enkel aufwachsen zu sehen.
Je älter man wird, desto weniger wichtig wird es, wie man nach außen auf andere Menschen wirkt.
Gerlinde Kretschmann, in apfelgrünem Sommerpulli, leicht gebräunt und guter Laune, will den Kaffeetisch bei Sonnenschein im Garten decken, wo es rundum blüht und summt. Plötzlich ziehen regenschwere Wolken auf. Ein Donnergrollen – und schon schüttet es wie aus Kübeln. So findet das erste große Interview, das die Frau des baden-württembergischen Ministerpräsidenten nach ihrer im Februar bekannt gewordenen Brustkrebserkrankung gibt, in der Wohnstube statt – an einem langen Wirtshaustisch, der längst ein geliebtes Möbelstück ist. Vor vielen Jahren hat die Familie das umgebaute Gasthaus in Sigmaringen-laiz bezogen, das einst Gerlinde Kretschmanns Großmutter bewirtschaftete. „Nehmen Sie vom Stachelbeerkuchen“, sagt sie, „der ist selbstgebacken.“Die 73-Jährige wirkt erholt – und ist entschlossen, sich ihre Lebensfreude nicht nehmen zu lassen.
Frau Kretschmann, wie geht es Ihnen?
Mir geht es gut, ich bin zufrieden. Glücklicherweise ist meine Brustkrebserkrankung ja noch rechtzeitig entdeckt worden.
Wie kam es dazu?
Leider bin ich mit meinen 73 Jahren nicht mehr im Mammographie-programm, das als Vorsorge ausschließlich für Frauen bis 69 angeboten wird. Meine Frauenärztin macht deshalb in regelmäßigen Abständen eine Ultraschalluntersuchung der Brust. Letztes Mal hat sie gesagt: Frau Kretschmann, Sie gehen jetzt gleich ins Krankenhaus. Das habe ich sofort gemacht, und der Verdacht auf Brustkrebs wurde bestätigt. Ich bin dann operiert worden und habe eine Strahlentherapie bekommen.
Wie haben Sie sich angesichts dieser Diagnose gefühlt, die ja jede Frau fürchtet?
Ich war nicht übermäßig geschockt. Meine Mutter ist an Krebs gestorben, deshalb war es nicht unwahrscheinlich, dass auch mich diese Krankheit treffen könnte. Ich habe die Ärzte gebeten, ganz offen mit mir zu sprechen. Das haben sie getan, und es war klar, dass ich nichts hinausschieben sollte.
Sie und Ihr Mann haben sich dann ebenso schnell entschieden, offen mit Ihrer Erkrankung umzugehen.
Ja, aus gutem Grund. Es ist doch nichts Unanständiges, wenn man krank wird. Wir sind beide der Meinung, dass eine ernsthafte Erkrankung kein Tabu sein sollte, leider ist das heute immer noch viel zu häufig der Fall. Dabei merken die Leute doch, dass irgendetwas nicht stimmt. Dann wird darüber geredet, es wird herumspekuliert, und wenn man der betroffenen Person begegnet, wird so getan, als sei nichts. Das finde ich unwürdig für alle Beteiligten, und das wollten wir so nicht.
Hat es Ihnen geholfen, dass Ihr Mann im Wahlkampf wegen Ihrer Erkrankung etwas kürzergetreten ist?
Ja, er hat mich glücklicherweise nicht betüttelt Aber er war da, und das war schön.
Wie waren die Reaktionen auf Ihre Offenheit?
Ich habe viele, viele Briefe bekommen, die ich hier in dieser Kiste aufbewahre und hoffentlich alle beantwortet habe. Diese große Anteilnahme hat mich sehr berührt. Auch heute noch sprechen mich Frauen darauf an, viele erzählen mir von ihrer eigenen Krebserkrankung und berichten auch, dass ihnen die Mammographie das Leben gerettet hat.
Sie waren ja auch Schirmherrin des baden-württembergischen Mammographie-screening-programms …
… und bin dafür von Kritikern dieser Untersuchung angefeindet worden. Aber solange es nichts Besseres zur Brustkrebs-früherkennung als die Mammographie gibt, kann ich auch nichts Besseres empfehlen. Es wäre wirklich wichtig, dass alle Frauen diese kostenlose Vorsorge auch noch wahrnehmen können, wenn sie älter als 69 Jahre sind.
Wie sehr hat Sie diese Erkrankung als Frau getroffen?
Ich sage immer: Ich bin eine ältere Frau, für eine jüngere Frau ist das sicher noch viel schlimmer. Ich habe kein großes Problem damit gehabt, dass ich einen Teil meiner Brust verliere, obwohl ich brusterhaltend operiert worden bin. Wenn ich in den Spiegel gucke, dann denke ich manchmal: Schöner geworden ist die Brust dadurch nicht, aber es gibt heute gute BHS, die das ausgleichen. Und das Wichtigste ist: Ich kann weiterleben.
Hatten Sie große Angst?
Wenn ich behaupten würde, ich hätte keine Angst vor dem Tod, dann würde ich lügen. Seien wir ehrlich: Wir haben alle Angst davor. Ich glaube, das kommt daher, dass wir – ob religiös oder nicht – nicht wirklich wissen, was danach passiert. Gleichzeitig sage ich mir: Ich bin so alt geworden und habe ein gutes Leben gehabt, jetzt versuche ich, den Kopf oben zu behalten und mich weiter meines Lebens zu freuen. Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch und bleibe zuversichtlich, dass ich das packen werde.
Im Juni haben Sie eine Reha gemacht. Konnten Sie sich erholen oder waren Sie dort permanent im Prominentenstatus?
Ich bin extra ein bisschen weiter weggegangen, um auch wirklich Ruhe zu finden. Ich wollte etwas sehen, was ich noch nicht kenne, und war zum ersten Mal in meinem Leben auf Sylt. Es waren dort dann doch relativ viele Patienten aus Baden-württemberg. Sie haben mich natürlich erkannt und waren alle sehr nett.
Konnten Sie auf Sylt neue Kraft schöpfen?
Es war schön dort, ich habe die Insel erkundet, bin viel gelaufen, habe den Sonnenuntergang genossen und das Meer – und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es dauert, wieder zu Kräften zu kommen. In der Reha bin ich übrigens einigen Menschen begegnet, auch gestandenen Männern, die nach ihrer Corona-infektion einfach nicht mehr auf die Füße gekommen sind. An ihnen konnte man sehen, was für eine heimtückische Krankheit das ist.
Trotzdem lässt die Impfbereitschaft nach. Ärgert Sie das?
Das ärgert mich furchtbar. Ich finde es verantwortungslos. Die Impfung kostet einen nichts, der Aufwand für einen Termin wird immer geringer, und man schützt nicht nur sich, sondern auch andere. Ich begreife diese Verweigerung nicht.
Sie sind auch ein sehr politischer Mensch, waren für die Grünen im Sigmaringer Gemeinderat …
… kommentiere aber die Politik meines Mannes grundsätzlich nicht.
Aber Sie haben eine Meinung zur Grünenkanzlerkandidatin Annalena Baerbock und der Kritik an ihr?
Ja sicher, da sind Fehler gemacht worden, aber dieses Skandalisieren finde ich absolut unverhältnismäßig. Wenn es um Korruption oder dergleichen ginge, hätte ich für diese Aufregung Verständnis. Aber so? Ich frage mich da schon: Kann man einem jungen Menschen in Zukunft noch guten Gewissens empfehlen, ein politisches Amt anzustreben, wenn er mit so etwas rechnen muss? Und wann geht es endlich wieder um die Themen, die für die Zukunft entscheidend sind?
Ihr Mann ist seit zehn Jahren Ministerpräsident. Hat Sie beide das Leben in der Öffentlichkeit verändert?
Wir haben uns sicher verändert, mussten uns zum Beispiel erst daran gewöhnen, dass manches, was über einen gesagt oder geschrieben wird, als sehr oberflächlich oder einfach auch persönlich als ungerecht empfunden wird. Meine Sorge ist, dass eines Tages kaum noch einer in die Politik gehen will, weil sich niemand mehr zumuten mag, derart beobachtet, bewertet und oft genug auch verurteilt zu werden.
Nach der Überschwemmungskatastrophe ist der Klimaschutz plötzlich in aller Munde. Werden die Grünen in Zukunft überflüssig sein?
Nein, die Grünen werden immer gebraucht.
Warum sind Sie da so sicher?
Weil sie immer Antreiber waren und sind – und es beim Klimaschutz jetzt wirklich eilt. Das erleben wir in diesen Tagen ja auf furchtbare Weise. Auch wenn man manchmal gar nicht glauben mag, dass das eigene Verhalten viel bewirkt: Es ist gut und richtig, wenn jeder Einzelne seinen Teil zum Klimaschutz beiträgt. Gleichzeitig aber braucht es eine Politik, die hier einen eindeutigen Schwerpunkt setzt, sonst werden wir den Wettlauf gegen die Zeit verlieren.
Sie haben drei erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder. Haben Sie das Gefühl, dass die ältere Generation, die lange nicht auf die Folgen ihres Verhaltens geschaut hat, den Jüngeren etwas schuldet?
Ich stelle mir Gesellschaft so vor, dass man immer auch für andere verantwortlich ist, egal, ob sie alt oder jung sind. Fridays for Future hat noch einmal einen wichtigen Schub für den Klimaschutz gegeben. Dazu gehört auch, dass die Jungen, wie die Grünen in ihren Anfangsjahren, mehr fordern, als man verwirklichen kann. Wenn man vorankommen will, muss man Maximalforderungen stellen – und trotzdem bereit sein, anderen zuzuhören und Rücksicht zu nehmen.
Wenn wir über Jung und Alt sprechen: Wie sehr haben sich Ihre persönlichen Werte im Lauf des Lebens verändert?
Je älter man wird, desto weniger wichtig wird es, wie man nach außen auf andere Menschen wirkt, ob man mit anderen mithalten kann oder genauso viel weiß wie sie. Eigentlich schade, dass man das erst im Alter richtig begreift. Seit meiner Erkrankung mache ich noch häufiger das, was ich richtig finde, und nicht das, was man vielleicht von mir erwartet.
Zum Beispiel?
Kürzlich war mein Mann zu einer Theaterpremiere eingeladen, und es war ein Stück, das ich schon kannte. Normalerweise hätte ich dabei sein sollen. Aber ich hatte einfach keine Lust.
Was haben Sie stattdessen gemacht?
Etwas Spontanes. Ich bin mit meiner Tochter und einem meiner Söhne in eine Kneipe gegangen, um ein Em-spiel zu schauen, und das war richtig nett.
Was macht Ihnen am meisten Freude?
Am liebsten bin ich mit meiner Familie zusammen und genieße die Zeit mit unseren Kindern und Enkeln – sie aufwachsen zu sehen, ist einfach eine Freude. Außerdem wandere ich ja leidenschaftlich gerne und bin, wann immer es geht, draußen in der Natur. Und ich bin glücklich, dass sich unser Kirchenchor nun nach der langen coronabedingten Pause unter Einhaltung der Hygienevorschriften endlich wieder treffen darf. Das gemeinsame Singen hat mir sehr gefehlt.
Wäre es aus heutiger Sicht besser gewesen, Ihr Mann hätte auf die dritte Amtszeit verzichtet, weil er dann mehr Zeit für Sie und die Familie gehabt hätte?
Ich glaube nicht, dass mein Mann, so wie ich ihn kenne, im Ruhestand mehr Zeit haben wird (lacht). Er wird sich sicher neue Aufgaben suchen – und natürlich auch finden. Nein, glauben Sie mir: Es ist alles richtig so, wie es ist. Und er hat sich angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise sehr bewusst dafür entschieden, noch einmal voll anzupacken.