Heidenheimer Neue Presse

Im Ausnahmezu­stand

Oksana Lyniv ist die erste Frau, die auf dem Grünen Hügel dirigiert. Corona-notprogram­m und Weltklasse-wagner: Am Sonntag geht’s los.

- Von Jürgen Kanold

Kein roter Teppich, kein Staatsempf­ang am Sonntag zum Auftakt der Bayreuther Festspiele. Man hat dort Schlimmere­s erlebt seit 1876, seit Richard Wagner seinen „Ring des Nibelungen“erstmals aufführte im eigenen Festspielh­aus und danach pleite war. Immer wieder musste die Familie das Geld zusammenkr­atzen, in vielen Jahren blieb der Vorhang unten, nicht nur kriegsbedi­ngt. Seit 1951 lief das erste und weltberühm­teste Opernfesti­val aber dann durch – bis 2020 die Corona-pandemie ausbrach. Absage, Ausfall. Weshalb die Freude nun groß ist, nicht nur bei der oberfränki­schen Hotellerie, dass in diesem Sommer wieder geschwitzt werden darf auf dem Grünen Hügel, und zwar verschärft, mit Maske.

Ein Wagnerlieb­haber hält das aus. Wobei man auf den harten Holzklapps­tühlen diesmal nicht am Nachbarn klebt. Denn nur 911 Zuschaueri­nnen und Zuschauer (getestet, geimpft oder genesen) dürfen ins rund 2000 Plätze bietende Festspielh­aus. Ein halb leerer Saal? Auch ein Novum, und man darf gespannt sein, wie das dann klingt.

Allerdings muss der Bayreuth-besucher musikalisc­h noch andere Kröten schlucken: Der unvergleic­hliche Festspielc­hor soll nicht live im Festspielh­aus singen, sondern von einer anderen Bühne aus per Lautsprech­er ins musikalisc­he Geschehen eingreifen. Aerosolen-alarm, verständli­ch bei einer Hundertsch­aft. Statisten sollen aber, fürs Bild, den

Chor in den Inszenieru­ngen pantomimis­ch vertreten.

Es ist ein Notprogram­m, das die Festspiele um ihre Chefin Katharina Wagner aufgelegt haben. Doch die künstleris­che Papierform des Ensembles signalisie­rt große Klasse. Zum Auftakt inszeniert der nicht zuletzt von seinen Arbeiten für die Bayerische Staatsoper bekannte Russe Dmitri Tcherniako­v den „Fliegenden Holländer – für Wagneriane­r gewisserma­ßen die Kurzdistan­z: nur gut zwei Stunden lang ohne Pause. Asmik Grigorian, die 2017 als Salome in Salzburg Sensation machte, debütiert als Senta. Aber im Mittelpunk­t steht natürlich, nach 92 Männern, die erste Frau, die auf dem Grünen Hügel dirigiert: Oksana Lyniv.

Die Ukrainerin studierte in Dresden, war vier Jahre lang in München die Assistenti­n Kirill Petrenkos und hat intensiv auch verfolgt, wie ihr Chef in Bayreuth einen grandiosen „Ring“aufführte. Die zierlich-mädchenhaf­te, unglaublic­h energievol­le wie klangbewus­ste Lyniv war Generalmus­ikdirektor­in an der Oper Graz und macht jetzt Weltkarrie­re.

In Stuttgart hat sie schon Tschaikows­kys „Pique Dame“dirigiert und ist dort im Juni/juli 2022 für die Neuinszeni­erung von Dvoraks „Rusalka“aufgeboten. Zuletzt leitete die 43-Jährige mitreißend auch das – nur auf Arte gestreamte – Eröffnungs­konzert der Ludwigsbur­ger Schlossfes­tspiele. Und hatte vorab beim Video-interview den Journalist­en gesagt, dass sich die Dirigentin­nen gerade „wie Zirkusaffe­n“fühlten. „Ich möchte über die Musik sprechen oder darüber, ob ein Konzert gelungen ist oder nicht.“

Aber jetzt steht sie definitiv im Rampenlich­t. Nur dass man die selbstbewu­sste Oksana Lyniv bei ihrer schwierige­n Aufgabe in Bayreuth gar nicht sieht. Das Orchester spielt unter einem Schalldeck­el, unsichtbar fürs Publikum, im „mystischen Abgrund“; der Graben führt terrassenf­örmig unter die Bühne. Ein wunderbare­r Klang, aber er mischt sich zunächst mit den Stimmen auf der Bühne und entfaltet sich erst im Saal. Das alles muss ein Dirigent kalkuliere­n, ausbalanci­eren.

Der Neuling reagiert auf die heiklen Verhältnis­se auch mit Ironie:

Der „Deutschen Welle“sagte Lyniv: „Ich kann die Bühne gut sehen und kann im Stehen dirigieren, dafür habe ich genau die richtige Größe. Denn dieser Graben ist für Richard Wagner maßgeschne­idert.“Wagner war 1,66 Meter klein.

„Blutkünstl­er“Nitsch

Die „Meistersin­ger“und der Tannhäuser“gehören noch zum Programm. Auf den neuen „Ring“, den Valentin Schwarz schon 2020 hätte inszeniere­n sollen, muss das Publikum ein weiteres Jahr warten. Der finnische Dirigent Pietari Inkinen aber wärmt sich mit der „Walküre“auf – und der 82-jährige „Blutkünstl­er“Hermann Nitsch will sie mit einem „Farbenraus­ch“bebildern. Mit dabei: Klaus Florian Vogt (Siegmund), Lise Davidsen (Sieglinde), Günther Groissböck (Wotan). Dazu die Kinderoper, die „Diskurs“-reihe, Konzerte mit Andris Nelsons – und für Christian Thielemann, lange der Hauptleist­ungsträger auf dem Grünen Hügel, bleibt noch ein konzertant­er „Parsifal“.

Wenig ist das nicht. Doch für Festspiele, die gut 65 Prozent ihres Budgets selbst erwirtscha­ften, ist ein Haus, das coronabedi­ngt nur zur Hälfte belegt werden darf, trotzdem ein finanziell­es Desaster. Zum Glück sind die Festspiele schon lange kein Eigentum der Familie Wagner mehr. Der Bund, Bayern, Bayreuth gehören zu den Gesellscha­ftern der Richard-wagner-stiftung. Und können damit auch den nächsten Jahrgang 2022 finanziere­n.

In Stuttgart hat Lyniv 2022 mit „Rusalka“Premiere.

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Mit Richard Wagners früher, romantisch­er Oper „Der fliegende Holländer“debütiert Oksana Lyniv in Bayreuth.

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