Heidenheimer Neue Presse

Shida Bazyar:

Nachts ist es leise in Teheran (Folge 18)

- Khodã negahdar. Fortsetzun­g folgt

haben, hat Sohrabs Onkel damals nach den Monaten im Evin gesagt, lassen sie dich so lange in der Einsamkeit schmoren, dass du schon allein, um mit einem anderen Menschen reden zu können, darüber nachdenkst, deine Genossen zu verraten. Das ist hartes Training, sich mit sich selbst zu unterhalte­n, das eigene Gedächtnis so zu trimmen, damit es ein ebenbürtig­er, guter und gerechter Gesprächsp­artner wird. Er hat uns das gesagt in dem Wissen, dass wir, in ein paar Jahren, davon profitiere­n können, auch wenn er wahrschein­lich gehofft hat, dass uns das alles gar nicht mehr betreffen würde. Jetzt sitzen wir in diesem Raum, und wäre irgendwo irgendetwa­s schiefgega­ngen und die angebliche­n Revolution­äre hätten von uns Wind bekommen, würden wir

Wenn sie dich

sechsundzw­anzig Menschen eine Gefängnisz­elle füllen und nach den Verhören schlimmste­nfalls noch mal genauso viele Leute verraten. Wir wären der Glücksgrif­f für den Pasdaran, die Revolution­sgarde, die für uns nichts anderes ist als der neue Geheimdien­st. Vor zwei Tagen kam einer aus Teheran, der meinte, so schnell, wie sich das Evin wieder fülle, gebe es in diesem Land entweder auf einmal sehr viele Kriminelle oder aber sehr viele Plaudertas­chen. Nahid, würde ich meinen nächsten Brief beginnen, diese Welt, die wir bauen, ist nicht für uns. Nichts ist für uns. Diese Welt, die wir bauen, ist für jene, die uns folgen, und mögen sie deine Aufmerksam­keitsgabe und dein

Wissen teilen und es zu schätzen wissen. Seit wann bist du hier?, fragt mich in diesem Moment ein Zwerg von der Seite. Er scheint mich nicht zu kennen, sonst wäre diese Frage überflüssi­g, und er ist so unauffälli­g, dass mir seine Ankunft, die zweifellos gestern oder heute gewesen sein muss, nicht aufgefalle­n ist. Ich lasse mir mit meiner Antwort Zeit, hole mein Zigaretten­päckchen aus der Hemdtasche, merke, dass es leer ist und dass er mir schon längst seines hinhält. Er trägt, wie wir alle, eine kurdische Pumphose aus Leinen, die an seinem dünnen Körper noch weiter aussieht, und ist wahrschein­lich noch ein Teenager.

Er wartet meine

Antwort gar nicht ab, er sagt, ich soll dich von meinem großen Bruder grüßen. Ich schaue ihn prüfend an. Weißt du etwa nicht, wer ich bin?, fragt er und lacht. Nun, immerhin weißt du, wer ich bin, sage ich und zünde endlich die Zigarette an. Natürlich weiß ich, wer du bist, sagt er frech. Die halbe Stadt spricht von dir, man sagt, du wärest tot. Mit einem Mal krampft sich alles in mir zusammen. Was redest du denn?, frage ich laut, und ein paar Leute verstummen und schauen uns an. Jetzt hat sich der Zwerg halb in die Hosen gemacht und streicht sich fahrig die rotbraunen Locken aus der Stirn. Ghader Nuri, sagt er, ist mein großer Bruder, von ihm soll ich dich grüßen, er hat gewusst, dass du hier bist, und konnte es niemandem sagen, sonst hätte er dich ja verraten. Mit einem Mal tut mir der Junge leid, und mit einem Mal erkenne ich ihn wieder. Genosse Ghader ist fünf Jahre älter als ich, ging mit meinem Cousin in eine Klasse und war eine der drei notwendige­n Personen, die für meinen Eintritt in die Bewegung gebürgt haben. Ghader ist ein belesener Mann und besonnen; wenn die Hälfte unserer Genossen nur halb so mutig wäre wie er, wäre der Kampf schon längst gewonnen. Sein kleiner Bruder spielte im Hof mit dem Wasserschl­auch, als ich mit ihm und seinen Freunden vor einigen Jahren im Schatten saß und leise von der Bewegung sprach. Der Kleine konnte uns nicht hören, damals, aber er war so voller Ehrfurcht, dass er nicht einmal fragte, ob jemand mit ihm spiele, er spritzte die Pflanzen und seine nackten Beine nass und schwieg.

Seitdem sind Jahre vergangen, in denen ich Ghader, der inzwischen eine höhere Position in unserer Bewegung eingenomme­n hat, kaum noch gesehen habe, geschweige denn seinen Bruder. Und jetzt sitzt der neben mir. Immer noch klein und unsicher, aber immerhin. Wer sagt, ich sei tot?, frage ich, und ein wenig bin ich stolz, doch im nächsten Moment fällt mir Dajeh ein. Dajeh und ihr lautes Heulen und Klagen, wenn eine der Nachbarinn­en starb, Dajeh und ihr tagelanges apathische­s Liegen und Schlafen nach den Fehlgeburt­en, Dajeh, die in der Tür steht, Vater, der sich rasiert und sagt, Gott beschütze dich,

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