Verrückt, aber richtig
Kevin Krawietz kann es kaum erwarten. Auf Instagram veröffentlichte der deutsche Tennisprofi seine ersten Eindrücke aus dem Olympia-dorf in Tokio. Er machte ein Video, wie seine Mannschaftskameraden mühsam ein Bett verlängern. Später schlagen sich die Tennisprofis in der Mensa, wo jeder Sitz mit Plexiglasscheiben abgetrennt ist, die Bäuche voll. Für Krawietz ist Tokio einer der Höhepunkte seines Athletenlebens. Für ihn und Hunderte andere ebenso. Gerade deshalb ist es richtig, dass die Spiele jetzt stattfinden.
Es stimmt: Das Heckmeck um die Sommerspiele machte zuletzt wenig Lust auf das Event. Zuschauer sind nicht zugelassen. Journalisten dürfen sich nicht außerhalb bestimmter Zonen bewegen, bunte Geschichten rund um das Treiben im Olympia-dorf wird es seltener geben. In Tokio gab es Proteste, weil die Angst vor Corona-ausbrüchen immens ist. Wie groß der Rückhalt der Bevölkerung sein wird, ist ein großes Fragezeichen. Trotz der Bedenken wollten japanische Regierung und Internationales Olympisches Komitee das Event mit aller Macht durchsetzen.
Es ist dennoch ein Trugschluss zu glauben, bei Olympia gehe es nur um das Prestige eines Landes oder darum, wie viel Geld ein Weltverband scheffeln kann. Olympia hat die Kraft, Aufmerksamkeit für Randsportarten zu schaffen und womöglich sogar Kinder dafür zu begeistern. Vor fünf Jahren gewann die Bogenschützin Lisa Unruh Silber – vielen war da erst bewusst, dass Bogenschießen ein Leistungssport sein kann. Der Kanute Sebastian Brendel gehört zu den erfolgreichsten deutschen Olympioniken. Seinen Namen werden ebenso wenige kennen wie die von deutschen Pferdeund
Radsportlern, die seit Jahrzehnten Garanten für Medaillen sind.
Dennoch: Diese Athleten ackern jahrelang dafür, einmal die Weltbühne zu betreten. Das tun sie neben ihrer Ausbildung bei der Polizei oder Bundeswehr. Ihnen diese Chance auf ein bisschen Ruhm und Anerkennung zu nehmen, wäre niederschmetternd – nicht nur aus sportlicher, auch aus finanzieller Sicht. Im Gegensatz zu Fußball-millionären bauen Sportler auf die Boni, die sie für Medaillen bekommen.
Wenn es Tokio schafft, für Ablenkung zu sorgen, haben sich die Spiele schon gelohnt.
Bei Olympia geht es aber auch um Geschichten. In Rio startete Yusra Mardini, die 2015 aus Syrien fliehen und dabei stundenlang durchs Mittelmeer schwimmen musste, im Geflüchtetenteam. In Tokio ist die 23-Jährige erneut dabei. Zum ersten Mal wird eine Transperson starten. Die Gewichtheberin Laurel Hubbard ist bei der Frauen-konkurrenz dabei.
All das bedeutet nicht, dass das IOC und Japan alles richtig gemacht haben. Im Gegenteil. Sich über den Wunsch der Bürger, die die Spiele größtenteils ablehnt, hinwegzusetzen, bleibt kritikwürdig. Auch dürfen die Corona-hygienestandards nicht über Bord geworfen werden. Aber: Wenn es Tokio schafft, für Ablenkung zu sorgen und schöne Geschichten zu schreiben, haben sich die Spiele schon gelohnt – für Zuschauer und Sportler.