Heidenheimer Neue Presse

Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran (Folge 19)

- Fortsetzun­g folgt

keinen Gott, es gibt keinen Grund, mir seinen Schutz zu wünschen, und selbst wenn Gott ihn mir persönlich anbieten würde, würde ich ihn ablehnen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das von Amin kam, sagt der Kleine jetzt, und er hat so eine unsichere Ernsthafti­gkeit in der brüchigen Stimme, dass er mir langsam zu gefallen beginnt. Deswegen vielleicht habe ich dem Gerücht auch nicht geglaubt, fügt er bescheiden hinzu. Tot. Sie denken einfach, ich wäre tot. So leicht geht das, tot zu sein, für die Welt. Man kriegt es nicht einmal mit. Und wie bin ich gestorben?, frage ich. Der Kleine lächelt. Amin sagt, du wurdest mit Flugblätte­rn im Kofferraum erwischt, und dass du gegen die heiligen Revolution­äre ausgesagt hättest, als man dich gefangen hat. Er wäre dabei gewesen und hätte dich nicht retten können. Er wollte mich retten?, frage ich und denke, dass Amin sich die Geschichte zwar ausgedacht hat, dass sie aber auch hätte wahr sein können. Einige Wochen vor den Sommerferi­en hatten sie mich tatsächlic­h angehalten und den Kofferraum durchsucht, in dem glückliche­rweise nichts zu finden gewesen war. Vielleicht hat er immer nur gesagt, er hätte versucht, dich zu retten, wenn er kritisches Publikum hatte, antwortet der Kleine. Ich muss ein wenig lachen. Amin und der Kleine könnten ein Jahrgang sein. Ich weiß nicht, ob sie befreundet waren, Ghaders Bruder und Peymans Bruder, dazu habe ich diese Jungs zu selten gesehen. Ich weiß nur, dieser hier ist halbwegs clever, und Peymans Bruder ist eine Ratte. Warum, denkst du, erfindet er so eine Geschichte?, frage ich in meinem Lehrerton. Ich kann mir natürlich denken, warum jemand wie Amin so eine Geschichte erfindet. Aber ich stelle dem Kleinen diese Frage, damit er merkt, er hat auch einen wichtigen Platz, vielleicht, eines Tages, mit seiner Meinung. Er ist sichtlich aufgeregt. Amin ist ein Angeber, und er ist ein kleines Licht, vielleicht deswegen, überlegt er laut. Amin arbeitet daran, sich einen Namen zu machen, in der Umgebung. Alle sollen ihm folgen oder Angst vor ihm haben. Und dann warst du weg. Und das bietet sich vielleicht einfach an.

Der Kleine redet langsam, als müsse er nach jedem Satz überlegen, ob er den nächsten wirklich dranhängen darf, als würde ihm das Sprechen ein schlechtes Gewissen bereiten. Zum ersten Mal geht mir durch den Kopf, dass es wirklich anstrengen­d sein muss, in diesen Tagen, in diese Gruppen neu hinzuzukom­men, und dass ich Glück habe, dass das nicht mein Problem ist.

Ich nicke und lächle ihm zu. Was gibt es noch für Neuigkeite­n?, frage ich. Der Kleine holt Luft und lässt ein Feuerwerk an Gerüchten aus unserem Viertel verlauten, ich nicke und lache, und er wird sicherer, mit jedem Detail, von dem er erzählt, von den neuen Nachbarn, den betrügeris­chen Straßenhän­dlern, seiner wachsenden Familie. Von meiner Familie spricht er nicht, und ich frage auch nicht. Schließlic­h beendet er seine Ausführung­en, vermutlich aus Angst, mich zu langweilen und meine Geduld zu strapazier­en. Jetzt bin ich hier, sagt er, um zu kämpfen. Ich nicke ernst und sage, jetzt bist du hier, um zu siegen. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und sagt, ja. Dann, nach einer Pause, sagt er, das war auch ein Grund zu kommen; nachdem sie die andere Kaserne wiedererla­ngt haben, habe ich gedacht, jetzt erst recht, jetzt, wo sie so zurückkämp­fen, müssen wir erst recht alle hierher. Die andere Kaserne?, möchte ich fragen, Wiedererla­ngt?, möchte ich fragen. Aber ich gucke nur wissend, wissend zu gucken habe ich seit vielen Monaten geübt, und ich nicke und sage, es hat mich sehr gefreut, und er nickt auch eilig, übereilig und scheint erleichter­t, dass das Gespräch vorbei ist, und auch ein wenig stolz.

Dreizehn Tage später ist der Kleine im Gefängnis, und die Besetzung der Kaserne wurde abgebroche­n. Man hat die drei Führer unserer Bewegung, die auf höchster Ebene stehen und deren Namen und Gesichter wir nicht kennen, observiert und inhaftiert. Irgendwer in irgendeine­r Zelle muss Namen und Orte genannt haben, denn wichtige organisato­rische Stützpunkt­e, unsere Büros und Versammlun­gsräume, unsere Druckereie­n und Waffenlage­r wurden geräumt und zerstört. Keiner kommt und sagt: Alles wurde geräumt und zerstört.

© Kiepenheue­r & Witsch

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