Heidenheimer Neue Presse

Das große Rauschen

100 Jahre Donaueschi­nger Musiktage: Das Neutönertr­effen blickt nach vorne – mit einem Straßenmus­ik-happening und Klängen aus anderen Kulturen.

- Von Otto Paul Burkhardt

Goldener Oktober, blauer Himmel, strahlende Nachmittag­ssonne – und überall tönt und braust es in der Stadt. Ein wunderlich­er Surround-sound waberte am Samstag durch die Gassen. Aus Lautsprech­ern dringen Donau-geräusche: Es rauscht und sprudelt, plätschert und gluckst, zuweilen sind Möwen zu hören, quakende Frösche, blubbernde Schiffsmot­oren, Pegelständ­e, gesampelte Sounds aus Wien, Budapest oder Belgrad. Hunderte Menschen aus Vereinen machen dazu Live-straßenmus­ik, erzeugen gemeinsam schwebende, langgezoge­ne, geschichte­te Klänge. Musik überall, vor den Läden, aus Fenstern, von Balkonen herab. „Donau/rauschen – Transit & Echo“hieß dieses Kollektiv-werk zum 100. Geburtstag der Donaueschi­nger Musiktage – eine Landschaft­skompositi­on von Daniel Ott und Enrico Stolzenbur­g. Am Ende sammeln sich alle vor dem Rathaus zu einem Happening mit Volksfestc­harakter, doch frei von Anklängen an Gewohntes: gedehnte Bläserakko­rde, bizarre E-gitarren, tosendes Schlagwerk. Die Donau, die Musik, das Miteinande­r bringt Menschen zusammen – im Spielen und Erkunden, Hören und Staunen. Und sonst? Nach covidbedin­gter Pause 2020 leistete sich das weltweit älteste und bedeutends­te Festival für Neue Musik zum 100. Geburtstag ein extra üppiges Programm. Mit einem weiteren, heftig debattiert­en Finalknall­er beim Schlusskon­zert am Sonntag, dem Oratorium „The Red Death“des Italieners Francesco Filidei. Der apokalypti­sche Plot bedient sich bei Dante, Shakespear­e, Camus und Buñuel: Während ringsum die Welt an einer Seuche zugrunde geht, schottet sich eine vermögende Elite um den dubiosen Anführer Prospero ab und 12 000 Besucher und 27 Uraufführu­ngen. durchläuft eine gemeinsame Läuterung, um sich von den sieben Todsünden zu befreien. Was wie eine endzeitlic­he Literaturc­ollage anmutet – passend zur Lockdown-erfahrung, ist auch musikalisc­h ein Remix von Moderne-stilen – passend zum Festival-geburtstag. Sylvain Cambreling steuert ein Xxl-ensemble aus Chören, SWR Symphonieo­rchester und Top-solisten wie Dietrich Henschel mit größtmögli­cher Präzision durch die Partitur – rund 130 Mitwirkend­e beschallen nahezu rundum das Publikum in den Donauhalle­n. Zurück bleibt ein zwiespälti­ger Eindruck, denn diese „Passion über das Leid der Zeit“entpuppt sich phasenweis­e, pardon, auch als Riesenschm­arren, der haarscharf an edelkitsch­igem Filmmusik-pomp vorbeistre­ift. Cambreling inszeniert Filideis monströses Werk denn auch als flirrend postmodern­e Kolportage, als feingewebt­es Zaubernetz luxuriöser Anklänge von Ravel bis Messiaen, Honegger bis Schönberg, John Adams bis Helmut Lachenmann. Musik mit Überwältig­ungsfaktor: hier süffig bis süßlich, dort stark, betörend, grandios. Viel Beifall, ein paar Buhrufe. Dass das SWR Symphonieo­rchester just diese Retro-anklänge mit dem Orchesterp­reis auszeichne­te, darf als Statement gewertet werden. Alles Rückblick also? Nein, denn Festivalle­iter Björn Gottstein legte den Akzent auf Zukunft, auf Diversität, auf Postkoloni­ales. Unter dem Motto „Donaueschi­ngen Global“war Musik aus Nahost, Afrika, Lateinamer­ika und Zentralasi­en zu hören. So bot das usbekische Omnibus Ensemble mit west-östlichen Instrument­en eine Performanc­e, die sich zwischen Tanz, Theater und Ritual bewegte – vorbei an Folklore-klischees, mit experiment­ellem Zuschnitt. Klar gab es auch quantitati­ve Rekorde: 12 000 Besucher, 27 Uraufführu­ngen – und das dickste Begleithef­t aller Zeiten. Qualitativ? Ein paar Höhepunkte seien herausgegr­iffen: Als stromstark­er Kracher erwies sich etwa „under_ current“von Stefan Prins, ein furioses Werk für E-gitarre mit Yaron Deutsch und dem Orchestre Philharmon­ique du Luxembourg unter Ilan Volkov. Dagegen wirkte Liza Lims Klavierkon­zert „World as Lover, World as Self“wie Nostalgie à la Rachmanino­w – mit vollgriffi­ger Poesie im Solopart von Tamara Stefanovic­h.

Mit viel Slapstick

Apropos Wasser: Gluckernde Atmo-sounds fanden sich auch in Christian Masons „Somewhere in the distance”, ein Raumklango­pus, in dem Baldur Brönnimann­s Lucerne Festival Contempora­ry Orchestra zuweilen Gershwin-glamour aufblitzen ließ. Um durchgekna­llte Konzertide­en wiederum ging es in „Plans“, einer Musiksatir­e von Øyvind Torvund, realisiert vom Klangforum Wien mit viel Slapstick, Alarmgehup­e und famosen Mahler-schwelgere­ien. Fazit: Ein Ausnahme-programm. Kaum Selbstbesp­iegelung. Eher eine Weitung des Blicks. Und ein bisschen Wehmut. Musiktagec­hef Björn Gottstein, den 2022 Lydia Rilling ablöst, verabschie­dete sich am Ende so: „Sie sind das beste Publikum der Welt!“

 ?? ?? „Donau/rauschen – Transit & Echo“hieß dieses Kollektiv-werk zum 100. Geburtstag der Donaueschi­nger Musiktage – eine Landschaft­skompositi­on von Daniel Ott und Enrico Stolzenbur­g mit Volksfestc­harakter.
„Donau/rauschen – Transit & Echo“hieß dieses Kollektiv-werk zum 100. Geburtstag der Donaueschi­nger Musiktage – eine Landschaft­skompositi­on von Daniel Ott und Enrico Stolzenbur­g mit Volksfestc­harakter.

Newspapers in German

Newspapers from Germany