Ehrlichkeit ist wichtig
Die Erwartung der Ukraine, zügig in die EU aufgenommen zu werden, dürfte noch für viel Enttäuschung sorgen. Denn sie ist nicht so schnell zu erfüllen, wie die Regierung in Kiew sich das vorstellt. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung erneut deutlich gemacht. Dennoch wäre es falsch, die symbolische Wirkung zu unterschätzen, die ein Kandidatenstatus für die Ukraine bedeutete – für beide Seiten.
Für die Ukraine selbst geht es um die politische und wirtschaftliche Zukunft. Gerade in der Hinwendung zum Westen grenzt sie sich seit der Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten schließlich von Russland ab. Bliebe sie allein, wäre sie den begehrlichen Griffen des Kremls weiter ausgesetzt – egal, wie der Krieg endet. Ihr Beitrittswille ist ein Vertrauensvorschuss für Europa.
Aber auch die EU kann die Beitrittsperspektive nicht ungenutzt verstreichen lassen, wenn sie das westliche Lebensmodell attraktiv halten und weitere Staaten in ihren Einflussbereich aufnehmen möchte. Letztlich geht es darum, europäische Länder dem Einfluss Russlands zu entziehen. Auf dem Balkan läuft dieses Ringen schon seit Jahren.
Allerdings hilft Ehrlichkeit auf beiden Seiten. In Sachen Rechtsstaat hat die EU mit ihrer Osterweiterung nicht nur Glücksgriffe erlebt. Die Ukraine hat erst seit drei Jahren einen Präsidenten, der gegen Korruption und Oligarchen vorgeht – und wie schnell ein Rückfall in alte Zeiten gehen kann, hat man nach der Orangen Revolution von 2004 erlebt. Für einen Beitritt samt Erfüllung rechtsstaatlicher Standards ist es ein weiter Weg – wie das Ausreiseverbot für wehrpflichtige Männer in der Ukraine belegt.