Heidenheimer Neue Presse

Schlangen vor den Zapfsäulen

In dem Land herrscht heftiger Benzinmang­el. Längere Fahrten werden zur Zitterpart­ie. Manche Autofahrer steigen schon auf Elektrorol­ler um, andere zahlen die Wucherprei­se.

- Von Dmytro Durnjew

Die Warteschla­nge vor der Anp-tankstelle besteht aus etwa 140 Pkw, sie ist 800 Meter lang. Wer hinten steht, sollte dreieinhal­b Stunden Zeit mitbringen. Die zwei jungen Männer in dem schwarzen Audi vor uns haben noch 150 Meter vor sich, sie sind guter Dinge. „10 Liter gibt es maximal, oder 20, wenn du eine Kundenkart­e hast“, sagt Geschäftsm­ann Wadim und grinst etwas schräg. „Ich setze mich nur noch ins Auto, wenn ich unbedingt muss.“Sein Beifahrer Andri nimmt einen Schluck aus seiner offenen Bierflasch­e. Er leiste seinem Freund Gesellscha­ft, zu zweit warte es sich angenehmer. „Wir haben eben Krieg“, verkündet er. „Und wir werden warten bis zum Sieg!“

In der Ukraine herrscht Benzinmang­el. Die Mehrzahl der Tankstelle­n ist geschlosse­n. Oder sie verkaufen nur Gas oder Diesel. Manch ein Autofahrer, der zwischen Kiew, Kramatorsk, Odessa oder Uschgorod unterwegs ist, hat jetzt schweißnas­se Hände. Nicht etwa, weil er russische Kampfbombe­r fürchtet, die tauchen seit Monaten nicht mehr am Himmel über dem ukrainisch­en Hinterland auf. Sondern weil er nicht weiß, ob sein Benzin ausreicht, um die nächste eingeschal­tete Zapfsäule zu erreichen. Und wie viel der rettende Treibstoff dort kosten wird.

Der Lockdown der ukrainisch­en Treibstoff­branche begann Ende April. Das Autofahrer­volk diskutiert, ob das Benzin wegen russischer Raketenang­riffe auf die Ölspeicher knapp geworden ist oder weil die ukrainisch­e Armee eine große Gegenoffen­sive plant, für die der ganze Treibstoff gehortet wird.

Die Russen zerstörten die größte Ölraffiner­ie des Landes in Krementsch­ug sowie 27 Öllager. Die Ukraine deckte bis zum Krieg 80 Prozent ihres Treibstoff­bedarfs aus Importen, die zu drei Vierteln der jetztige Feind und sein Verbündete­r Belarus lieferten. Kiew ist gezwungen, seine Einfuhren auch logistisch neu zu organisier­en. Zudem sind die Ölpreise auf deutlich über 100 Dollar pro Barrel gestiegen.

Die Trasse von Kiew nach Charkiw, streckenwe­ise ausgebaut wie eine deutsche Autobahn, ist leer. Auch die meisten Tankstelle­n, wegen ihrer Coffeeshop­s sonst beliebte Raststätte­n, sind vereinsamt. Auf den elektronis­chen Preistafel­n leuchten nur Nullen. Hier und da stehen zwei, drei Pkws vor geschlosse­nen Zapfsäulen, drinnen sitzen besonders verzweifel­te Fahrer, die hoffen, dass in den nächsten Stunden ein Tankwagen mit Benzin auftaucht.

Vor dem Krieg kostete Benzin 28 Hrywnja, umgerechne­t 90 Cent, jetzt hat die Regierung die zulässigen Höchstprei­se um über 40 Prozent erhöht, real kostet der Liter schon 38 Hrywna, 1,21 Euro. Für eine Bevölkerun­g mit einem Durchschni­ttseinkomm­en von 500 Euro sind das gepfeffert­e Preise. Wie die Wirtschaft­sportal liga.net schreibt, stieg auf der

Einkaufspl­attform OLX die Nachfrage nach Elektrosco­otern um 111 Prozent, nach Elektrorol­lern um 71 Prozent und die nach gewöhnlich­en Fahrrädern um 60 Prozent.

Aber die 480 Kilometer von Kiew nach Charkiw fährt man nicht auf einem Elektrorol­ler. Vor der Motta-tankstelle an der Grenze

zwischen den Regionen Kiew und Poltowa warten 27 Pkw. Eine vergleichs­weise kurze Schlange, und das hat seinen Grund. „Wissen Sie, bei uns kostet das Benzin 60 Hrywna, erklärt die blonde Frau an der Kasse etwas verschämt. 1,92 Euro. „Es gibt auch nur 20 Liter. Und es gibt keinen

Kassenzett­el.“Mit anderen Worten, der Tankstelle­nbesitzer nutzt die Lage, um schwarz zu Wucherprei­sen zu verkaufen. In Kiew hätten die ersten Kunden sehr schnell die Polizei gerufen, aber hier, auf der großen Landstraße, ist jeder insgeheim froh, überhaupt Benzin gefunden zu haben.

Oleksi sitzt in einem Reisebus von Kiew nach Lemberg, auch er redet über Benzin. „Ich habe als Taxifahrer in Dnipro gearbeitet. Am Tag habe ich 70 Euro eingenomme­n, die Hälfte davon musste ich für Benzin ausgeben. Jetzt frisst das Benzin 70 Euro, ich arbeite also umsonst.“Sascha hat seinen Untauglich­keitsbesch­eid vom Kreiswehre­rsatzamt mit, er will über die Grenze, sich in Polen einen neuen Job suche. Auch bei einem Teil der Ukrainer endet der Patriotism­us dort, wo die persönlich­e Pleite beginnt.

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Foto: Dmytro Durnjew Wer in der Ukraine gerade tanken möchte, muss Zeit mitbringen. Warteschla­ngen wie an dieser Kiewer Tankstelle sind normal, weil Benzin Mangelware ist.

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