Kein Sommermärchen
Als die DDR die Bundesrepublik im Fußball besiegte: Ronald Reng erzählt von den 70er Jahren – auch Matthias Brandt und Roland Jahn spielen mit.
Eckhard Henscheid zum Beispiel, der Autor und Satiriker, der für die Magazine „Pardon“und später „Titanic“arbeitete. Im Sommer 1974 war er 32 Jahre alt, links, aufrührerisch, und er hatte gerade den Roman „Die Vollidioten“geschrieben, als Dostojewski-verehrer. Ein Buch über junge Müßiggänger in Frankfurt am Main, und der Erzähler fängt plötzlich an, seitenlang über Fußball zu philosophieren: „Aber die Genialität von Hölzenbeins oft – im Gegensatz zu Netzer – unauffälligen, heimlichen Spielzügen und Finten, seiner den Gegner gleichsam lächerlich machenden Pässe in den freien Raum und nicht zuletzt sein Torinstinkt sollten genügen, dem Bundestrainer endlich die Scheuklappen zu nehmen“.
Fußball in der hohen Literatur? Und dann führte Henscheid auch noch mit dem ebenfalls fußballbegeisterten Schriftsteller Ror Wolf ein Interview zur Lage der Nation und über „Das ideale deutsche Mittelfeld“; Hoeneß, Overath, Hölzenbein sei doch eine „linguistisch-taktisch überzeugende Lösung“. Das Feuilleton der „FAZ“veröffentlichte überraschend den per Post eingesandten Artikel, aber auch nur, weil der Chef, Marcel Reich-ranicki, sich im Urlaub befand. Empörte Leserbriefe folgten in der kulturkonservativen Zeitung: „Ich bin entsetzt über solch einen geistigen Abstieg.“
Vor 50 Jahren war das. Erstmals fand die Fußball-weltmeisterschaft in Deutschland statt, also in der Bundesrepublik. Doch am 22. Juni 1974, es war ein Samstagabend, spielte in der Vorrunde, im Hamburger Volksparkstadion, wirklich Deutschland: zum ersten und letzten Mal die Bundesrepublik gegen die DDR. Ronald Reng hat das Jubiläum zum Anlass genommen, um, nein, viel mehr als ein Fußballbuch zu schreiben: „1974 – eine deutsche Begegnung“. Untertitel: „Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte“.
Denn es geht nicht allein um die 90 Minuten in Hamburg, als die DDR durch ein Tor von Jürgen Sparwasser einen Sieg gegen den Klassenfeind errang – und die bundesdeutsche Elf, angeführt von Franz Beckenbauer, später trotzdem Weltmeister wurde. Reng, der schon mehrere ausgezeichnete Fußballbücher veröffentlichte, erzählt deutsch-deutsche Historie, aufgeblättert an einem Tag. Momentaufnahmen, Menschen, Zeitdokumente. Spannend, nicht nur für die Leserinnen und Leser der Boomer-generation, die sich mit dieser Lektüre an die Kindheit erinnern, als hätten sie in eine Proust’sche Madeleine gebissen.
Wie erlebten nicht nur die Spieler diesen 22. Juni 1974? Zu Rengs Sachbuch-mannschaft gehören (der kürzlich verstorbene) Klaus Hölzenbein und Günter Netzer sowie die Ddr-helden Gerd Kische (Hansa Rostock), Jürgen Kurbjuweit und Konrad Weise (FC Carl Zeiss Jena). Aber Matthias Brandt ist ebenso dabei, der Schauspieler und Bundeskanzlersohn, der damals zwölf Jahre alt war und daran verzweifelte, dass sein Idol Günter Netzer bei der WM nur auf der Bank saß – nur gegen die DDR war Netzer eingewechselt worden, wirkungslos. Vom Platz gegangen aber war nur zwei Monate zuvor Willy Brandt, zurückgetreten nach der Enttarnung des Ddrspions Günter Guillaume; eine verstörende Zeit für Matthias.
Zu den Akteuren dieses Buches gehören auch der ehemalige Rafterrorist Klaus Jünschke und der Ddr-bürgerrechtler Roland Jahn, dessen Vater für den Verein FC Carl Zeiss Jena tätig war. Auch Doris Giercke, die 1974 als Fremdenführerin den Ddr-fußballfans, die aber von der Stasi ausgewählt worden waren, Hamburg zeigte — und später die BellaBlock-krimis schrieb. Und Reporter-legenden aus West und Ost, die über die WM berichteten, sind dabei: Hans Eiberle („Süddeutsche Zeitung“) und Horst Friedmann („Deutsches Sportecho“).
Zum Aufgebot der Interviewten zählt zudem die Schauspielerin Jutta Wachowiak, die 1974 am Deutschen Theater die Charlotte („Charlie“) im Ddr-kulturstück „Die neuen Leiden des jungen W.“von Ulrich Plenzdorf spielte. Ein junger Mann, der die Flucht vor dem Staat in die innere und äußere Isolation antritt: Erich Honecker hatte 1971 als neuer Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED zwar gewisse Frühlingsgefühle ausgelöst. So war auch dieses Schauspiel durchgerutscht, das freilich dann für großen Ärger sorgte.
Ost-west-panorama
Davon erzählt Ronald Reng, über den Tag hinaus: ganze Schicksale, Porträts, teils romanhaft geschrieben. Mit vielen Menschen hat er gesprochen für dieses Buch. Tolle Geschichten. Darunter irre Details: So erhielten die Ddr-spieler, die natürlich keine Amateure waren, sondern viele Privilegien hatten, als Wm-prämie auch 10.000 Westmark (DM). Wochen später aber sollten sie das Geld wieder zurückzahlen, weil ein Parteifunktionär offenbar Panik bekommen hatte.
Ein deutsches Ost-west-panorama der 70er Jahre. Manchmal dauert ein Spiel halt doch mehr als 90 Minuten und es geht nicht nur um Tore. Übrigens: Nur vereinzelte Deutschland-fahnen waren 1974 in den Straßen zu sehen, nirgendwo an den Balkonen oder an den Autos. „Die Deutschen mussten der Welt und sich selbst doch zeigen, dass sie 29 Jahre nach Kriegsende genug vom Nationalismus hatten.“1974 – das war sehr lange vor dem „Sommermärchen“, der WM 2006. Aber Hölzenbein kickte damals tatsächlich im Finale.
Mehr als nur Erinnerungen an die WM 1974.