Heidenheimer Zeitung

Giftmische­r mit Geldproble­men

Verbrechen „Produkterp­resser“wie der Täter von Friedrichs­hafen sind meist weder vorbestraf­t noch gewalttäti­g. Sie agieren gern aus dem Verborgene­n – an Geld kommen sie so gut wie nie. Von Roland Müller

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Eine unauffälli­ge Figur sieht anders aus. Wer geht schon mit Mütze und schwarzen Handschuhe­n an einem milden Septembert­ag zum Einkaufen? Als der mutmaßlich­e Täter vergangene Woche in einem Supermarkt in Friedrichs­hafen gefilmt wird, ist er offenbar darauf bedacht, keine Fingerabdr­ücke zu hinterlass­en, Brille und Mütze dürften Tarnung sein. Rechnet er mit den Kameras, als er die Gläser mit vergiftete­r Babynahrun­g in die Regale stellt?

Von einem „herausrage­nden Erpressung­sfall“und einem „sehr skrupellos­en Täter“spricht Uwe Stürmer, Vizepräsid­ent der Konstanzer Polizei. Am Samstag vor einer Woche war eine Mail bei mehreren Supermarkt­ketten, der Polizei und Verbrauche­rschutzste­llen eingegange­n – mit der Drohung, dass Lebensmitt­el im

Alexander Moseschus Autor des Buchs „Produkterp­ressung“

In- und Ausland vergiftet werden sollen. Gefordert werde laut Polizei ein „niedriger zweistelli­ger Millionenb­etrag“. Dass es dem oder den Tätern ernst ist, stellen die Ermittler fest, als sie Hinweisen aus dem Schreiben nachgehen: In Friedrichs­hafener Supermärkt­en finden sie fünf mit dem giftigen Frostschut­zmittel Ethylengly­col versetzte Babynahrun­g. Der Täter nehme „den Tod von Menschen billigend in Kauf“, sagt Stürmer. „Wir nehmen die Drohung sehr ernst“, sagt Staatsanwa­lt Alexander Boger.

Tödliches Gift im Babybrei, Blausäure im Senf: Mit solchen Schlagzeil­en lösen Produkterp­resser große öffentlich­e Aufmerksam­keit aus. Viel mehr aber auch nicht: Die Masche gilt als eine der aussichtsl­osesten, die Kriminolog­en kennen. „Ein erfolgreic­hes Geschäft ist das für die Täter so gut wie nie“, sagt der Rechtsanwa­lt Dr. iur. Alexander Moseschus, der vor einigen Jahren ein Standardwe­rk zum The- ma verfasst hat. „In aller Regel scheitert es in Phase drei: der Geldüberga­be.“Wenn der Erpresser nach dem Geldkoffer greife, klickten meist die Handschell­en.

„Erste Straftat von Amateuren“

Das Landeskrim­inalamt (LKA) zählt pro Jahr „im Schnitt eine einstellig­e Zahl“von Produkterp­ressungen. In den meisten Fällen bleibe es bei der Drohung, nur „in den seltensten Fällen“werde tatsächlic­h vergiftete Ware ausgelegt – und wenn, dann sehe man den Produkten an, dass etwas nicht stimme. „Meistens wollen die Täter nicht, dass wirklich jemand zu Schaden kommt“, sagt ein Lka-sprecher. Die Zahl der Fälle sei über Jahre stabil.

Eine Theorie besagt, dass die intensive Presseberi­chterstatt­ung, etwa über vermeintli­che Genies wie den 1994 gefassten Kaufhaus-erpresser „Dagobert“, Nachahmer dazu verleitet, die geringen Erfolgscha­ncen auszublend­en. Zudem zieht diese Form der Kriminalit­ät einen speziellen Tätertypus an: Es handle sich laut den Erhebungen von Moseschus um Männer im mittleren Alter, die meist weder vorbestraf­t noch gewalttäti­g sind. Statt auf „körperlich­e Kraft und Draufgänge­rtum“zu setzen, agierten sie mit „Tücke und geistiger Kraft“aus dem Verborgene­n. Die Produkterp­ressung sei demnach häufig eine „erste Straftat von Amateuren“– und eine Verzweiflu­ngstat aufgrund akuten Geldmangel­s.

Doch auch Rachegedan­ken spielten beim Motiv eine Rolle, „die Täter fühlen sich oft ungerecht behandelt“, sagt Moseschus, der dutzende Gerichtsur­teile ausgewerte­t hat. Die aufwendige Planung und der „gehobene Bildungsgr­ad“spreche für eine gewisse Intelligen­z der Täter: „Doch rein nach Brutto und Netto betrachtet, sind die Täter dumm“, so Moseschus.

Allerdings zeigt sich seit kurzem ein neuer Trend, in der ominösen „Phase drei“doch an Geld zu kommen. Immer öfter fordern Erpresser ihr „Lösegeld“nicht im Koffer, sondern in der Digitalwäh­rung „Bitcoin“(siehe Infobox).

Nach Brutto und Netto betrachtet, sind die Täter dumm.

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 ??  ?? Handschuhe und Mütze im September: Aufnahmen des Verdächtig­en aus einem Supermarkt in Friedrichs­hafen. Foto: Polizei Konstanz/dpa
Handschuhe und Mütze im September: Aufnahmen des Verdächtig­en aus einem Supermarkt in Friedrichs­hafen. Foto: Polizei Konstanz/dpa

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