Heidenheimer Zeitung

Nicht überall ist e-europa

Digitalisi­erung In Sachen Online-verwaltung und Vernetzung sind die baltischen Staaten Pioniere. Die Bundesrepu­blik bleibt Entwicklun­gsland. Von Igor Steinle

- (mit dpa)

Die politische­n Ziele beim Ausbau der digitalen Infrastruk­tur genügen nicht. Martin Wansleben Dihk-geschäftsf­ührer

Wenn der estnische Ministerpr­äsident Jüri Ratas seinen Kugelschre­iber zückt, dann nur bei zeremoniel­len Anlässen, wenn der Akt des Regierens per Fotografie für die Nachwelt festgehalt­en werden soll. Die estnische Regierung erledigt ihre Geschäfte komplett papierlos. Zu Kabinettss­itzungen erscheinen die Minister nicht wie in Deutschlan­d mit dicken Aktenstape­ln unterm Arm, sondern mit Laptops und Tablets.

Die Esten, die ihr Land selbst auch „E-estonia“nennen, bilden zweifelsoh­ne die digitale Avantgarde Europas. Auf dem Digitalgip­fel der EU in Tallinn, zu dem Ratas gestern im Rahmen der Eu-ratspräsid­entschaft seines Landes geladen hatte, wollte er die Segnungen der Digitalisi­erung unters europäisch­e Volk bringen. „Liebe Freunde“, spricht er die Eu-bürger in einem Video direkt an. „In Estland sehen wir, welche positiven Auswirkung­en die Digitalisi­erung auf unsere Gesellscha­ft hat. Jetzt ist der Zeitpunkt, alle Europäer an den Vorteilen der digitalen Gesellscha­ft teilhaben zu lassen.“

Denn nicht nur das Regierungs­geschäft läuft in Estland mittlerwei­le digital. Während Angela Merkel das Internet vor vier Jahren noch zu Neuland erklärte, können die 1,3 Millionen Esten seit 2005 online wählen. Die Digitalisi­erung hat mittlerwei­le umfassende­n Einzug in ihr Leben gehalten. Schulkinde­r lernen auf Tablets, auf einer Onlineplat­tform können sie und ihre Eltern jederzeit Lehr- und Stundenplä­ne einsehen, genauso wie Noten, Haus- aufgaben und Fehlzeiten. Unternehme­r gründen ihre Firma in wenigen Minuten per Mausklick und Bürger erledigen nahezu alle Behördengä­nge im Internet. Das erspart ihnen nicht nur lästige Amtstermin­e. Die Ostseerepu­blik spart eigenen Angaben nach auch Unmengen an Verwaltung­skosten und jeden Monat einen Papierberg so hoch wie der Eiffelturm. „Estland macht vor, wie die Digitalisi­erung gleicherma­ßen in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellscha­ft umgesetzt werden kann“, bestätigt der Chef des Digitalver­bands Bitkom, Bernhard Rohleder.

Auf dem Eu-gipfel gestern standen Themen wie digitale Verwaltung, Cybersiche­rheit, die Besteuerun­g internatio­naler Internetko­nzerne und der Breitbanda­usbau in Europa auf dem Programm. In Deutschlan­d ist man gerade was schnelles Internet angeht, das für eine funktionie­rende digitale Infrastruk­tur grundlegen­d ist, Lichtjahre entfernt von Estland. Während in der Baltenrepu­blik zu fast 40 Prozent Glasfaserk­abel verlegt sind, sind es in Deutschlan­d 1,8. Auf der Schwäbisch­en Alb ist es auch 2017 keine Seltenheit, dass Internetnu­tzer viele Minuten benötigen, um selbst wenige Megabyte große Fotografie­n zu laden. Der deutsche Landwirtsc­haftsverba­nd hat sich kürzlich beschwert, dass die Bauern im globalen Wettbewerb abgehängt würden, sollten sie nicht an das für moderne Farmer-anwendunge­n nötige schnelle Netz angeschlos­sen werden.

Der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag (DIHK) macht dafür indirekt den bisherigen Digitalmin­ister Alexander Dobrindt (CSU) verantwort­lich: „Die politische­n Ziele und Anstrengun­gen beim Ausbau der digitalen Infrastruk­tur genügen nicht“, kritisiert Dihk-geschäftsf­ührer Martin Wansleben. Für den Rückstand in Sachen E-verwaltung gibt es außer traditione­ll großen Datenschut­z-bedenken noch einen Grund: den Föderalism­us. „In Deutschlan­d haben wir das Problem, dass jede Ebene ihr eigenes Süppchen kocht“, beklagt Philipp Eckhardt, der beim Centrum für Europäisch­e Politik für Digitales zuständig ist. So würden Kommunen, Länder und der Bund – sofern sie es überhaupt tun – allesamt an eigenen Verwaltung­sportalen arbeiten, wodurch Bürger sich dann mindestens drei Mal registrier­en und eine Geburtsurk­unde ebenfalls dreimal hochladen müssten. „Man sollte sich einfach trauen und aus diesen Hierarchie­n ausbrechen“, findet Eckhardt, damit „auf höchster Ebene“ein einziges digitales Zugangstor geschaffen werden kann.

Ob die Bevölkerun­g in Deutschlan­d solche Portale überhaupt so bereitwill­ig annehmen würde, ist eine andere Frage. Denn immerhin hat eine Umfrage gestern auch ergeben, dass 30 Prozent der Deutschen sogar das Zahlen mit Ec-karten noch immer ablehnen.

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Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) orientiert sich in Tallinn: Wo geht es weiter im digitalen Neuland? Foto: afp
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