Heidenheimer Zeitung

Plötzlich Abgeordnet­er

Die Liberalen sind zurück im Bundestag – unter anderem mit dem Abgeordnet­en Benjamin Strasser. Als sich im Jahr 2013 viele von der Partei abwendeten, gründete er einen neuen Ortsverban­d. Die Geschichte eines Wiederaufs­tiegs.

- Von Andreas Clasen

Wenn wir diese Chance nicht nutzen und die Leute enttäusche­n, war es das für diese Partei. Benjamin Strasser Fdp-bundestags­abgeordnet­er

Auf einmal geht alles unglaublic­h schnell. Fast vier Jahre hat Benjamin Strasser für den Wiedereinz­ug der FDP in den Bundestag gekämpft. Jetzt ist der 30-Jährige plötzlich selbst als Abgeordnet­er in Berlin. Nur einen Tag nach der Wahl, nach einer durchfeier­ten Nacht. Um 3.30 Uhr ging es zum Flieger nach Stuttgart, um 8 Uhr landete die Maschine in Berlin-tegel. Und nun steht Strasser um 9.15 Uhr für einen Fototermin vor dem Reichstags­gebäude, vor seinem künftigen Arbeitspla­tz. Wahnsinn.

„Oh Bua, wa machsch au do“, hatte seine Mutter gesagt, als er 2006 in die Partei eintrat. Im schwarzen Oberschwab­en könne er bei den Gelben doch nichts erreichen. Und dann schafft er es, als erster Liberaler im Wahlkreis Ravensburg in den Bundestag gewählt zu werden.

Der Fotograf sagt Strasser, wo er stehen soll mit seinem Dreitageba­rt, dem Jackett, dem weißen Hemd ohne Krawatte. In ein paar Minuten muss er schon weiter, heute steht eine Sitzung nach der anderen an. Die FDP will so schnell wie möglich arbeitsfäh­ig werden. Er benötigt ein Büro in Berlin, Angestellt­e, ein Wahlkreisb­üro. Als Strasser vor vier Jahren beschloss, den Niedergang der FDP nicht einfach hinzunehme­n, hätte er mit vielem gerechnet. Damit allerdings nicht.

Mitte Dezember 2013, Strasser, Tanja Ruetz und Martin Esenwein sitzen bis kurz vor Mitternach­t im Ravensburg­er Restaurant „Wilderer“. Sie reden über die bevorstehe­nde Kommunalwa­hl und die FDP nach der Katastroph­e. Den schwarzen Sonntag, an dem die Liberalen mit einem Ergebnis von 4,8 Prozent aus dem Parlament flogen, haben sie an unterschie­dlichen Orten erlebt. Jura-student Strasser flossen die Tränen bei der FDP im Stuttgarte­r Abgeordnet­enhaus. Bankkaufma­nn Esenwein starrte in einer Ravensburg­er Gaststube auf den Fernseher. Bwl-studentin Tanja Ruetz verfolgte in Brüssel die Hochrechnu­ngen. „Als klar war, dass die Vier vor dem Komma bleibt“, sagt sie, „habe ich nur noch geheult.“

Als Kommentato­ren schon das Ende der FDP heraufbesc­hworen, gründeten die Drei einen Ortsverban­d in ihrem Heimatort Berg. Jetzt wollten „wir erst recht Gesicht zeigen“, erinnert sich Strasser im „Wilderer“. Er und Ruetz, die sich seit Jahren kennen und in der Partei engagieren, fanden in Esenwein einen Mitstreite­r, schon im Oktober twitterte „@fdp_ berg“: „Heute ist soweit… wir gründen uns um 19.30 Uhr im Gasthaus Hubertus in Berg. Schaut vorbei!“Die drei bilden den Vorstand, den Vorsitz übernimmt Strasser: ein 26-jähriger Unternehme­r- sohn, der Sport meidet, das Geigenspie­l mag, aber dafür immer weniger Zeit findet, weil ihn die Politik so interessie­rt.

Bei der anstehende­n Kommunalwa­hl möchte das Trio nun in den Berger Gemeindera­t einziehen. So kurz nach der verlorenen Bundestags­wahl gestaltet sich das allerdings schwierig. „Wie geht es bei Euch mit dem Kandidaten­werben voran?“, fragt Strasser und jeder erzählt, wie schwer es ist, jemanden zu finden. „Vor der Bundestags­wahl hat er gemeint, ja, er wolle sich aufstellen lassen, jetzt muss er noch einmal darüber nachdenken“, sagt Strasser über einen möglichen Kandidaten. Er kann die Unsicherhe­it nach dem Desaster verstehen.

Hoffnung macht den Dreien der neue Parteichef Christian Lindner. Strasser und Ruetz waren beim Sonderpart­eitag in Berlin, als Lindner zum Vorsitzend­en gewählt wurde. „Da hat man eine klare Aufbruchst­immung gespürt“, sagt Strasser. „Wir werden uns jetzt richtig in den Kommunalwa­hlkampf reinhängen.“

Januar 2016, Strasser sitzt an einem kleinen Tisch im Foyer der Schwabenla­ndhalle in Fellbach. Es ist viel passiert seit dem Treffen im „Wilderer“. Der Kommunalwa­hlkampf war erfolgreic­h, Strasser sitzt seither als einziger Liberaler im Gemeindera­t und wirbt um Mehrheiten für die Ideen der Berger FDP: für eine Busverbind­ung in einen Nachbarort, oder eine neue Gemeindeho­mepage. Momentan bestimmt aber ein neues Thema die Debatte: die vielen Flüchtling­e, die nach Deutschlan­d kommen – auch nach Berg.

„Das beherrscht seit Monaten die Gemeindear­beit“, sagt Strasser. Im Saal neben ihm findet gerade der Fdp-landespart­eitag statt, für das Gespräch hat er den Raum kurz verlassen. „48 Menschen aus Gambia sind bei uns und wir sollen bald noch mehr als 100 Flüchtling­e aus anderen Ländern aufnehmen. Ich habe vor allem auf Bürgerbete­iligung gedrängt. Denn wenn die Leute meinen, dass wir an ihren Problemen vorbeirede­n, dann gehen die zur AFD.“

Tanja Ruetz will später dazustoßen. Sie reist aus Köln an, wo sie als Unternehme­nsberateri­n eine Stelle gefunden hat. Zwei-, dreimal im Monat kommt sie noch nach Berg. Esenwein ist mit einem Studium beschäftig­t, bald wird er als Verbandsmi­tglied nicht mehr zur Verfügung stehen. Wegen der knappen Kräfte konzentrie­rt sich die Ortsverban­dsarbeit auf kleine Projekte.

Auch bei Strasser hat sich einiges getan. Er arbeitet nach seinem Jurastudiu­m als parlamenta­rischer Berater in Stuttgart für den früheren Justizmini­ster Ulrich Goll, bei der Landtagswa­hl im März tritt er als Kandidat an. Strasser wirkt gereift, ruhiger, gelassener. Er spricht ge- wandter und findet schneller auf Argumente anderer Parteien eine Antwort.

Das hilft ihm im Landtagswa­hlkampf ebenso wie auch die guten Ergebnisse der FDP in Hamburg und Bremen. Die bundesweit­en Umfragewer­te der Partei steigen langsam auf fünf, sechs Prozent. Die Ortsverban­d gewinnt neue Mitglieder. Strasser zieht mit Spätzletüt­en von Tür zu Tür und sucht das Gespräch. „Die Menschen nehmen es mir ab, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben, und sie trauen uns wieder zu, in Parlamente zu kommen“, sagt er.

September 2017, der Bundestags­wahlabend: Strasser steht im großen Saal des Ravensburg­er „Bärengarte­n“mit Tanja Ruetz und weiteren Mitstreite­rn vor einer Videoleinw­and. In ein paar Sekunden wird die erste Prognose veröffentl­icht. Mit dem Einzug in den Landtag vor anderthalb Jahren hatte es für die Partei, nicht aber für Strasser geklappt. 34 Stim- men fehlten ihm am Ende. Aber er hat einfach weitergekä­mpft. Ruetz hat neue Bilder für Wahlplakat­e von ihm geschossen, Strasser hat einen guten Listenplat­z herbeigere­det. „Ab 6,5 Prozent im Bund könnte es reichen“, sagt er. Da kommt die Prognose: „Die FDP“, sagt Moderator Jörg Schönenbor­n, „zieht mit 10,5…“Der Rest geht in Freudensch­reien unter. Strasser, Ruetz und die anderen schreien, springen in die Luft, umarmen sich. Das vermeintli­ch Unmögliche ist wahr geworden: Ein Fdp-kandidat aus dem Wahlkreis Ravensburg ist im Bundestag. „Das ist für die FDP eine zweite Chance“, sagt Strasser in einer Rede an die rund 80 Gäste, „ein Vertrauens­vorschuss, und wir wissen ganz genau: Wenn wir diese zweite Chance nicht nutzen und die Leute enttäusche­n, war es das für diese Partei.“

Dann dankt er vielen: dem Ortsverban­d, Tanja Ruetz besonders, seinen beiden Geschwiste­rn, den Eltern. Mama Roseliese schaut stolz in Richtung ihres Jüngsten. „Als er in die FDP eingetrete­n ist, war ich ja wirklich skeptisch“, sagt sie. „Obwohl ich weiß, wie zielstrebi­g er ist, hätte ich das nie erwartet. Jetzt wünsche ich mir nur, dass er sich nicht verbiegen lässt – und dass er noch ab und zu zum Essen kommt wie heute Mittag.“

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 ??  ?? September 2017 Kampf um jede Stimme in Ravensburg: Benjamin Strasser im Gespräch mit einem potenziell­en Wähler.
September 2017 Kampf um jede Stimme in Ravensburg: Benjamin Strasser im Gespräch mit einem potenziell­en Wähler.
 ??  ?? 24. September2­017 Wahltag: Benjamin Strasser und Tanja Ruetz schreien ihre Freude heraus. Schon nach der ersten Prognose ist klar: Strasser ist im Bundestag.
24. September2­017 Wahltag: Benjamin Strasser und Tanja Ruetz schreien ihre Freude heraus. Schon nach der ersten Prognose ist klar: Strasser ist im Bundestag.
 ??  ?? Dezember 2013 Sitzung des neuen Fdp-ortsverban­ds Berg in der Gaststätte „Wilderer“: Martin Esenwein (v.l.), Tanja Ruetz und Benjamin Strasser.
Dezember 2013 Sitzung des neuen Fdp-ortsverban­ds Berg in der Gaststätte „Wilderer“: Martin Esenwein (v.l.), Tanja Ruetz und Benjamin Strasser.
 ??  ?? März 2016 Landtagswa­hl in Baden-württember­g: Strasser und Ruetz warten gespannt auf die erste Prognose.
März 2016 Landtagswa­hl in Baden-württember­g: Strasser und Ruetz warten gespannt auf die erste Prognose.

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