Plötzlich Abgeordneter
Die Liberalen sind zurück im Bundestag – unter anderem mit dem Abgeordneten Benjamin Strasser. Als sich im Jahr 2013 viele von der Partei abwendeten, gründete er einen neuen Ortsverband. Die Geschichte eines Wiederaufstiegs.
Wenn wir diese Chance nicht nutzen und die Leute enttäuschen, war es das für diese Partei. Benjamin Strasser Fdp-bundestagsabgeordneter
Auf einmal geht alles unglaublich schnell. Fast vier Jahre hat Benjamin Strasser für den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag gekämpft. Jetzt ist der 30-Jährige plötzlich selbst als Abgeordneter in Berlin. Nur einen Tag nach der Wahl, nach einer durchfeierten Nacht. Um 3.30 Uhr ging es zum Flieger nach Stuttgart, um 8 Uhr landete die Maschine in Berlin-tegel. Und nun steht Strasser um 9.15 Uhr für einen Fototermin vor dem Reichstagsgebäude, vor seinem künftigen Arbeitsplatz. Wahnsinn.
„Oh Bua, wa machsch au do“, hatte seine Mutter gesagt, als er 2006 in die Partei eintrat. Im schwarzen Oberschwaben könne er bei den Gelben doch nichts erreichen. Und dann schafft er es, als erster Liberaler im Wahlkreis Ravensburg in den Bundestag gewählt zu werden.
Der Fotograf sagt Strasser, wo er stehen soll mit seinem Dreitagebart, dem Jackett, dem weißen Hemd ohne Krawatte. In ein paar Minuten muss er schon weiter, heute steht eine Sitzung nach der anderen an. Die FDP will so schnell wie möglich arbeitsfähig werden. Er benötigt ein Büro in Berlin, Angestellte, ein Wahlkreisbüro. Als Strasser vor vier Jahren beschloss, den Niedergang der FDP nicht einfach hinzunehmen, hätte er mit vielem gerechnet. Damit allerdings nicht.
Mitte Dezember 2013, Strasser, Tanja Ruetz und Martin Esenwein sitzen bis kurz vor Mitternacht im Ravensburger Restaurant „Wilderer“. Sie reden über die bevorstehende Kommunalwahl und die FDP nach der Katastrophe. Den schwarzen Sonntag, an dem die Liberalen mit einem Ergebnis von 4,8 Prozent aus dem Parlament flogen, haben sie an unterschiedlichen Orten erlebt. Jura-student Strasser flossen die Tränen bei der FDP im Stuttgarter Abgeordnetenhaus. Bankkaufmann Esenwein starrte in einer Ravensburger Gaststube auf den Fernseher. Bwl-studentin Tanja Ruetz verfolgte in Brüssel die Hochrechnungen. „Als klar war, dass die Vier vor dem Komma bleibt“, sagt sie, „habe ich nur noch geheult.“
Als Kommentatoren schon das Ende der FDP heraufbeschworen, gründeten die Drei einen Ortsverband in ihrem Heimatort Berg. Jetzt wollten „wir erst recht Gesicht zeigen“, erinnert sich Strasser im „Wilderer“. Er und Ruetz, die sich seit Jahren kennen und in der Partei engagieren, fanden in Esenwein einen Mitstreiter, schon im Oktober twitterte „@fdp_ berg“: „Heute ist soweit… wir gründen uns um 19.30 Uhr im Gasthaus Hubertus in Berg. Schaut vorbei!“Die drei bilden den Vorstand, den Vorsitz übernimmt Strasser: ein 26-jähriger Unternehmer- sohn, der Sport meidet, das Geigenspiel mag, aber dafür immer weniger Zeit findet, weil ihn die Politik so interessiert.
Bei der anstehenden Kommunalwahl möchte das Trio nun in den Berger Gemeinderat einziehen. So kurz nach der verlorenen Bundestagswahl gestaltet sich das allerdings schwierig. „Wie geht es bei Euch mit dem Kandidatenwerben voran?“, fragt Strasser und jeder erzählt, wie schwer es ist, jemanden zu finden. „Vor der Bundestagswahl hat er gemeint, ja, er wolle sich aufstellen lassen, jetzt muss er noch einmal darüber nachdenken“, sagt Strasser über einen möglichen Kandidaten. Er kann die Unsicherheit nach dem Desaster verstehen.
Hoffnung macht den Dreien der neue Parteichef Christian Lindner. Strasser und Ruetz waren beim Sonderparteitag in Berlin, als Lindner zum Vorsitzenden gewählt wurde. „Da hat man eine klare Aufbruchstimmung gespürt“, sagt Strasser. „Wir werden uns jetzt richtig in den Kommunalwahlkampf reinhängen.“
Januar 2016, Strasser sitzt an einem kleinen Tisch im Foyer der Schwabenlandhalle in Fellbach. Es ist viel passiert seit dem Treffen im „Wilderer“. Der Kommunalwahlkampf war erfolgreich, Strasser sitzt seither als einziger Liberaler im Gemeinderat und wirbt um Mehrheiten für die Ideen der Berger FDP: für eine Busverbindung in einen Nachbarort, oder eine neue Gemeindehomepage. Momentan bestimmt aber ein neues Thema die Debatte: die vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen – auch nach Berg.
„Das beherrscht seit Monaten die Gemeindearbeit“, sagt Strasser. Im Saal neben ihm findet gerade der Fdp-landesparteitag statt, für das Gespräch hat er den Raum kurz verlassen. „48 Menschen aus Gambia sind bei uns und wir sollen bald noch mehr als 100 Flüchtlinge aus anderen Ländern aufnehmen. Ich habe vor allem auf Bürgerbeteiligung gedrängt. Denn wenn die Leute meinen, dass wir an ihren Problemen vorbeireden, dann gehen die zur AFD.“
Tanja Ruetz will später dazustoßen. Sie reist aus Köln an, wo sie als Unternehmensberaterin eine Stelle gefunden hat. Zwei-, dreimal im Monat kommt sie noch nach Berg. Esenwein ist mit einem Studium beschäftigt, bald wird er als Verbandsmitglied nicht mehr zur Verfügung stehen. Wegen der knappen Kräfte konzentriert sich die Ortsverbandsarbeit auf kleine Projekte.
Auch bei Strasser hat sich einiges getan. Er arbeitet nach seinem Jurastudium als parlamentarischer Berater in Stuttgart für den früheren Justizminister Ulrich Goll, bei der Landtagswahl im März tritt er als Kandidat an. Strasser wirkt gereift, ruhiger, gelassener. Er spricht ge- wandter und findet schneller auf Argumente anderer Parteien eine Antwort.
Das hilft ihm im Landtagswahlkampf ebenso wie auch die guten Ergebnisse der FDP in Hamburg und Bremen. Die bundesweiten Umfragewerte der Partei steigen langsam auf fünf, sechs Prozent. Die Ortsverband gewinnt neue Mitglieder. Strasser zieht mit Spätzletüten von Tür zu Tür und sucht das Gespräch. „Die Menschen nehmen es mir ab, dass wir aus unseren Fehlern gelernt haben, und sie trauen uns wieder zu, in Parlamente zu kommen“, sagt er.
September 2017, der Bundestagswahlabend: Strasser steht im großen Saal des Ravensburger „Bärengarten“mit Tanja Ruetz und weiteren Mitstreitern vor einer Videoleinwand. In ein paar Sekunden wird die erste Prognose veröffentlicht. Mit dem Einzug in den Landtag vor anderthalb Jahren hatte es für die Partei, nicht aber für Strasser geklappt. 34 Stim- men fehlten ihm am Ende. Aber er hat einfach weitergekämpft. Ruetz hat neue Bilder für Wahlplakate von ihm geschossen, Strasser hat einen guten Listenplatz herbeigeredet. „Ab 6,5 Prozent im Bund könnte es reichen“, sagt er. Da kommt die Prognose: „Die FDP“, sagt Moderator Jörg Schönenborn, „zieht mit 10,5…“Der Rest geht in Freudenschreien unter. Strasser, Ruetz und die anderen schreien, springen in die Luft, umarmen sich. Das vermeintlich Unmögliche ist wahr geworden: Ein Fdp-kandidat aus dem Wahlkreis Ravensburg ist im Bundestag. „Das ist für die FDP eine zweite Chance“, sagt Strasser in einer Rede an die rund 80 Gäste, „ein Vertrauensvorschuss, und wir wissen ganz genau: Wenn wir diese zweite Chance nicht nutzen und die Leute enttäuschen, war es das für diese Partei.“
Dann dankt er vielen: dem Ortsverband, Tanja Ruetz besonders, seinen beiden Geschwistern, den Eltern. Mama Roseliese schaut stolz in Richtung ihres Jüngsten. „Als er in die FDP eingetreten ist, war ich ja wirklich skeptisch“, sagt sie. „Obwohl ich weiß, wie zielstrebig er ist, hätte ich das nie erwartet. Jetzt wünsche ich mir nur, dass er sich nicht verbiegen lässt – und dass er noch ab und zu zum Essen kommt wie heute Mittag.“