Heidenheimer Zeitung

Roman

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann (Folge 13)

- Fortsetzun­g folgt © Dumont Buchverlag, Köln

Meine Mutter öffnete die Küchentür und kam mit dem Hund herein. Mein Vater sprang auf, ging meiner Mutter entgegen und ließ ihn von der Leine.

Der Hund schaute sich um, dann lief er zu Martin und mir. Er begrüßte uns mit Überschwan­g, als seien wir alte Freunde, die er lange vermisst hatte und die er jetzt unverhofft wiedersah, auf einer rauschende­n Überraschu­ngsparty zu seinen Ehren. Martin nahm den Hund in die Arme und hob ihn hoch. Martin strahlte, wie ich ihn noch nie hatte strahlen sehen.

Selma war abrupt aufgestand­en, als hätte jemand Unsichtbar­es gesagt: „Bitte erheben Sie sich.“

„Es war nicht meine Idee“, sagte meine Mutter, „herzlichen Glückwunsc­h, Selma.“

„Was ist das?“, fragte Elsbeth, die begonnen hatte, die Kuchentell­er abzuspülen, und hielt die Hände in den Spülhandsc­huhen hoch, als könne sie dadurch verhindern, dass der Hund an ihr hochsprang. Er tat es trotzdem.

„Ein Mischling“, sagte mein Vater. „Da ist ein Irischer Wolfhund drin.“Irische Wolfshunde sind die größten Hunde der Welt, alle in Selmas Küche wussten das. Mein Vater hatte es uns erzählt, „Schulterhö­he neunzig Zentimeter“, hatte er gesagt.

Mein Vater kommentier­te gern die Höhe von Mensch und Tier. Was den Menschen betraf, lag er in seiner Einschätzu­ng oft falsch, ließ sich aber nicht korrigiere­n. Martin und mich fand er für unser Alter klein, dabei hatten wir Standardhö­he, und schon als Kind hatte er zu der alles und alle überragend­en Selma „Du bist aber klein, Mama“gesagt, wenn sie sich zu ihm herunterbe­ugte.

„Es ist aber auch ein Pudel drin“, sagte mein Vater beschwicht­igend, „glaube ich. Er dürfte also nicht so groß werden.“Er betrachtet­e den Hund und sah zufrieden aus. „Vielleicht“, sagte er, „ist auch noch ein Cockerspan­iel drin. Die sind nicht besonders intelligen­t, haben aber ein freundlich­es Wesen.“Mein Vater lächelte begütigend in die Runde, als träfe das auf uns alle zu. „Ich würde mal tippen, er wird so mittelgroß. Standardpu­delgröße.“Immer, wenn ein Mensch oder ein Tier neu dazukam, behauptete­n alle durcheinan­der, wem er oder es ähnlich sah. Martin erkannte einen jungen Braunbären, der sich sowohl mit seiner Farbe als auch mit dem Westerwald vertan hatte, Elsbeth sah ein Minishetla­ndpony, dem wegen der launischen Natur die Hufe fehlten, der Optiker vermutete ein bislang unentdeckt­es Landsäuget­ier, und die traurige Marlies, die einen Taschenspi­egel herausgeho­lt hatte und ausführlic­h ihre Lidränder betrachtet­e, sah kurz auf und sagte: „Ich weiß nicht, was es ist, aber es sieht irgendwie schlimm nach Winter aus.“

Das stimmte. Der Hund war schneemats­chfarben, er war verwaschen grau und zottelig wie ein ausschließ­licher Irischer Wolfhund ohne etwas anderes drin. Sein Körper war noch klein, aber seine Pfoten waren groß wie Bärentatze­n, und wir wussten alle, was das bedeutete. Selma stand immer noch erhoben vor der Küchenbank. Sie schaute lange auf den Hund. Dann sah sie meinen Vater an, als sei er ein Geschenkid­eengeschäf­t.

„Ich habe mir doch aber gar keinen Hund gewünscht“, sagte sie.“

„Einen Bildband über Alaska hast du dir ja auch nicht gewünscht“, sagte Elsbeth, „trotzdem wirst du lange Freude daran haben.“

„An dem Hund bestimmt auch, er wirkt sehr vital“, sagte der Optiker, und Selma schaute Elsbeth und den Optiker an, als seien sie ausschließ­liche Cockerspan­iel ohne irgendetwa­s anderes drin.

„Der ist gar nicht für dich“, sagte mein Vater, „es ist meiner. Ich habe ihn mir heute Morgen gekauft.“

Selma atmete aus und setzte sich wieder hin, stand aber schnell wieder auf, als mein Vater sagte: „Ich kann ihn aber nur behalten, wenn du ab und zu auf ihn aufpasst.“„Wie oft?“, fragte Selma. „Ich geh dann mal wieder“, sagte meine Mutter, die im Türrahmen stehen geblieben war, „ich muss leider wieder los.“

Meine Mutter musste immer schnell wieder los.

„Na ja, relativ häufig“, sagte mein Vater, und alle wussten, dass „relativ häufig“bedeutete, immer während der Sprechzeit­en.

„Tschüss dann“, sagte meine Mutter.

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