Heidenheimer Zeitung

Zur Eröffnung gab’s Böllerschü­sse

Mit vielen Gästen feiern die Nattheimer den 150. Geburtstag ihres Wahrzeiche­ns. Was viele nicht wissen: Einst wurde der Ulmer Münsterbau­meister bei der Auftragsve­rgabe für den Kirchenbau ausgeboote­t.

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Seit dem neunten Jahrhunder­t nach Christi Geburt verfügte Nattheim über eine Dorfkirche. Diese war aus Holz gebaut und damals schon dem Heiligen Martin geweiht. Etwa um die Mitte des 14. Jahrhunder­ts wurde dann eine neue Kirche errichtet, 1536 wurde das Dorf mit der Einführung der Reformatio­n evangelisc­h. Die jetzige Kirche ist neuromanis­chen Stils und wurde vor 150 Jahren geweiht.

Aus Anlass dieses runden Jubiläums wird die Kirchengem­einde am 1. Oktober in und rund um die dreischiff­ige Kirche groß feiern – so das Wetter es zulässt. In den Blick kommt eine Festschrif­t aus dem Jahre 1992, die die Baugeschic­hte aufgrund der damals verfügbare­n Unterlagen durch Ulrike Weber und Dr. Manfred Allenhöfer eindrückli­ch machte. Die Fortschrei­bung der Geschichte hat Pfarrer Bernhard Philipp mit einem Team jetzt mit einer weiteren Broschüre vorgelegt.

Beide Festbücher geben Einblick in eine wechselvol­le Geschichte, wobei der Zeitgeist doch bemerkensw­erte Blüten trieb und es deutlich wurde, dass sich die Geister durchaus scheiden an Fragen des Baustils wie an der Innengesta­ltung einer Kirche. Hier finden sich neben Liebeserkl­ärungen an ein ans Herz gewachsene­s Gotteshaus­es auch vernichten­de Urteile. So notierte 1932 der Orgelsachv­erständige Helmut Bornefeld: „Die Kirche in Nattheim ist – insbesonde­re in der Innenausst­attung und auch im Orgelprosp­ekt – ein Beispiel kaum zu überbieten­der Geschmackl­osigkeit.“Einer aus dem evangelisc­hen Oberkirche­nrat in Stuttgart, der namentlich nicht genannt ist, kam 1962 zu der Feststellu­ng: „Die Kirche ist ein pseudoroma­nischer Bau, hat unbefriedi­gende Maßverhält­nisse.“Und: „Unsere Kirche ist zu unpersönli­ch. Eine Angleichun­g an den Zustand von vor 1962 wäre gut. Dann wäre der Gottesdien­st wieder ehrfurchts­voller. Jetzt fröstelt es einem bei der Kälte, die die Kirche ausstrahlt“. Zu dem Ergebnis kam 1988 bei einer Umfrage ein Gemeindemi­tglied.

Der Kirchenneu­bau Mitte des 19. Jahrhunder­ts war aber wohl notwendig, weil die Kirche letztlich für das Dorf zu klein wurde, das in der Einwohnerz­ahl zunahm. Wie sollte nun die neue Kirche aussehen? Schon 1830 fing die Diskussion an. Die bürgerlich­e Gemeinde war übrigens der Bauherr. Das heißt, nicht der Pfarrgemei­nderat sondern der (bürgerlich­e) Gemeindera­t traf die Entscheidu­ngen, fasste die Beschlüsse. Der Münsterbau­meister zu Ulm, Ferdinand Thrän, legte die Baupläne vor, die die Zustimmung von Schultheiß und Gemeindepa­rlament fanden und an die Kirchenlei­tung nach Stuttgart geschickt wurden.

Daselbst aber war man nicht begeistert, wollte offenbar einen anderen Baumeister ins Brot setzen. Der Vorwurf aus Stuttgart: Der Pflicht des Architekte­n zur Sparsamkei­t sei nicht nach-

gekommen worden. „Man“beauftragt­e daher einen gewissen Christian Friedrich Leins zu einem Gutachten der vorliegend­en Pläne. Sie fielen (erwartungs­gemäß) durch. Eben dieser Leins bekam von der Kirchenlei­tung den Auftrag zu neuen Plänen und schließlic­h zum Bau der Martinskir­che, deren Turm immerhin 36 Meter in die Höhe ragt und sich mit seiner achteckige­n Turmkapell­e deutlich abhebt vom Turmhelm auf Kirchtürme­n in der Härtsfelde­r Nachbarsch­aft.

Baubeginn war am 23. September 1864, wobei noch vor dem Abbruch der alten Kirche die neuen Fundamente gegraben wurden. Am 31. Mai 1865 war Grundstein­legung; Gottesdien­ste wurden vorübergeh­end im „Ochsen-saal“gefeiert. Und Weihnachte­n 1866 konnte schon im Rohbau Christvesp­er gehalten werden. Das mag recht zugig gewesen sein. Und da die Vorschrift­en damals so streng waren, mussten die Nattheimer einen Behelfsalt­ar unter den Christbaum stellen, da am eigentlich­en Altar, weil noch nicht geweiht, kein Gottesdien­st gehalten werden durfte.

70 000 Gulden hat die neue Kirche gekostet, zu deren Einweihung am 22. September 1867 Böllerschü­sse abgefeuert wurden und die „Hautevolee“unter Jubel der Bürger zur Weihe in die Martinskir­che schritt. Das Opfer wurde jenen beiden kinderreic­hen Familien überlassen, deren Väter während der Bauarbeite­n tödlich verunglück­t waren.

Das Langhaus der Martinskir­che ist dreischiff­ig. Das Mittelschi­ff erreicht eine Höhe von zwölf Metern. Markant sind das unverputzt­e Mauerwerk aus Ziegeln, die Sandsteinf­riese sowie die Kreuzblume­n und auch die Rosetten. Durch sieben verschiede­ne Türen können die Kirchgänge­r die Basilika betreten. Wie einst der im Chorraum zu vermutende Hochaltar ausgesehen haben mag, ist nicht bekannt. Das Gotteshaus war innen wie die Pauluskirc­he in Heidenheim ausgemalt. Der Chorraum hatte bunte Fenster, ein Sternenhim­mel zierte – ähnlich wie im Chor der Niederstot­zinger Peter- und Paulkirche – den Abschluss des Chors der Martinskir­che. Überrasche­nderweise wurde im Langhaus eine bemalte Kassettend­ecke aus Holz eingezogen.

Sie blieb erhalten, als anno 1962/63 die große Innenrenov­ation vorgenomme­n wurde. Nur durch das energische Einschreit­en einiger Gemeindemi­tglieder wurden die Abbrucharb­eiten an der Empore im Bereich der Vierung gestoppt. Aus dem Grunde ist dort die Empore beiderseit­s des nach vorne geholten Altars zurückgese­tzt. Der Chorraum als solches ist quasi ungenutzt, doch schauen von den Seitenwänd­en die Evangelist­en Matthäus, Markus, Lukas und Johannes herab.

Die 1975 eingebaute Link-orgel mit 1446 Pfeifen war aus finanziell­en Gründen nicht vollständi­g. Eine Spenden-aktion war ergiebig und erlaubte 2014 die Vervollstä­ndigung der Dispositio­n auf jetzt 20 Register. Immerhin 25 000 Euro hat dies alles erfordert.

Vom Turm der Martinskir­che rufen vier Glocken zum Gottesdien­st. Sie läuten auch zu den Gottesdien­sten der katholisch­en Gemeinde in der Herz-jesu-kirche, die über keinen eigenen Glockentur­m verfügt. Die Ökumene wird in Nattheim besonders gelebt – nicht bloß in einem gemeinsame­n Kirchencho­r.

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 ??  ?? Oben: Die Decke der dreischiff­igen Martinskir­che lässt erahnen, wie das Gotteshaus in seinem Inneren vor 1962 farblich gestaltet war. Rechts: Eine „Linkorgel“steht auf der Empore der Martinskir­che und wurde erst in den vergangene­n Jahren um drei weitere Register komplettie­rt.
Oben: Die Decke der dreischiff­igen Martinskir­che lässt erahnen, wie das Gotteshaus in seinem Inneren vor 1962 farblich gestaltet war. Rechts: Eine „Linkorgel“steht auf der Empore der Martinskir­che und wurde erst in den vergangene­n Jahren um drei weitere Register komplettie­rt.
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Oben: Ein in Blei gefasstes Glasfenste­r zeigt den Kirchenpat­ron: den Heiligen Martin. Unten: Eine der Rosetten soll besonderes Flair geben. Rechts: Der Altar der steht unter der Vierung und nicht im Chorraum. Fotos: Klaus-dieter Kirschner (4), Markus Brandhuber (6)
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Klaus-dieter Kirschner schaut sich gerne Kirchen an. Nattheims Martinskir­che hat besonderes Flair, seiner Meinung nach durch die Renovierun­g in den 1960ern viel von der gemalten Innenausst­attung eingebüßt.

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