Tiefer Brunnen der Seele
Orhan Pamuk erzählt mit ausschweifender Fabulierlust eine Geschichte von Vätern und Söhnen, von Liebe und Verrat. „Die rothaarige Frau“heißt der neue Roman des türkischen Nobelpreisträgers. Von Ulrich Rüdenauer
Tief hinab gräbt sich der Brunnenbauer Mahmut auf der Suche nach Wasser, und sein Geselle Cem leistet unter der anatolischen Sonne an der Seilwinde Schwerstarbeit, wenn er die Eimer voller Erde ans Tageslicht befördert. Aus der unheimlichen Dunkelheit schallen Cem die Anweisungen des Meisters entgegen – mahnende, aufmunternde Worte, als kämen sie aus einer anderen Welt, aus dem Unbewussten.
Meister Mahmut füllt eine Leerstelle in Cems Leben aus: Sein Vater nämlich, ein politischer Aktivist und Apotheker, hat sich eines Tages aus nicht näher benannten Gründen aus dem Staub gemacht. Mahmut ist im Gegensatz zum geheimniskrämerischen Vater ein geradliniger Mann mit klaren Vorstellungen. Ein Macher, der obendrein eine gewisse Macht ausübt über seinen Schützling.
Der Ich-erzähler Cem bewundert den Brunnenbauer, und zugleich scheint er diesem Vaterersatz nicht ganz zu trauen: Im Dorf Öngören, wo die beiden auf Wasser zu stoßen hoffen, hat eine fahrende Theatertruppe Station gemacht. Der 16-Jährige verliebt sich Hals über Kopf in eine der Schauspielerinnen, eine weitaus ältere, rothaarige Frau. Er schleicht ihr nach, sucht ihre Nähe. Und wird von ihr schließlich sogar verführt. Gegen Mahmut hegt Cem allerdings fortan den Verdacht, dass dieser ebenfalls ein Auge auf die rothaarige Schönheit geworfen habe. Und als es auf der Baustelle zu einem Unfall kommt, lässt Cem den verletzten Mahmut in der Tiefe zurück – und flieht nach Istanbul, zurück zu Muttern, weg von der Geliebten, weg vom ihn nun sein Leben lang verfolgenden Meister. Eine Ruhmestat ist das nicht.
Diese Geschichte, die nur wenige Wochen umfasst, wird auf den ersten 120 Sei- ten von Orhan Pamuks neuem Roman „Die rothaarige Frau“geschildert. Aber natürlich nicht nur das. Orhan Pamuk ist weniger dafür bekannt, dass er die Leser im Unklaren lässt über seine erzählerischen Absichten, und man muss nicht Psychologie studiert haben, um hier eine ödipale Gemengelage zu erkennen, die sich gewaschen hat.
Der durch den ganzen Roman hindurch thematisierte Konflikt zwischen Vätern und Söhnen wird illustriert durch diverse Mythen, die auch schon in früheren Büchern von Pamuk eine Rolle spielten. Cem erzählt dem Meister an einem der gemeinsamen Abende Sophokles‘ Ödipus-legende; und die Theatertruppe stellt eine Sage aus dem persischen Heldenepos Schahname nach – die Geschichte von Rostam und Sohrab, eine Umkehrung der antiken Erzählung. Hier ist es der Vater, der seinen Sohn tötet. Um diese beiden Mythen dreht sich fortan alles.
Man könnte meinen, der Literaturnobelpreisträger Pamuk habe bei dieser vertrackten, klassischen, in die Gegen- wart transponierten Tragödie ziemlich dick aufgetragen. Der Eindruck täuscht nicht: Die Geschichte ist penibel konstruiert, und dem Leser werden allzu viele Deutungsangebote frei Haus mitgeliefert: „An Vätern mangelt es nicht in diesem Land. Vater Staat. Gottvater. Die Generäle spielen sich als Väter auf, und sogar die Mafia. Ohne Vater kann hier keiner leben“, heißt es einmal.
Will sagen: Die Schahname-sage steht für die archaische Welt, die strengen Gehorsam vom Sohn verlangt. Ödipus hingegen ist ein Symbol für den Aufbruch, den Westen, die Moderne – der Vatermord als Akt der Befreiung. Zugleich aber droht der moderne Mensch im „Dschungel der Stadt“unterzugehen. Cem sucht vergeblich eine haltgebende Figur, er selbst ist ein zerrissener Charakter. In seinem Sohn, der sich auf alte Werte und die Religion besinnt, bricht dieser innere Konflikt gefährlich auf.
Es wäre wohl keine Überinterpretation, darin eine Mentalitätsgeschichte der türkischen Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten zu erkennen. Und auch wenn man der Handlung, der ausschweifenden Erzähllust Orhan Pamuks, den tragischen Wendungen dieser modernen Sage gerne folgt, so bleibt doch ein schaler Nachgeschmack angesichts des wenig subtil ausgestellten Überbaus des Romans.
Ein moderner Mensch droht im Dschungel der Großstadt Istanbul unterzugehen.