Heidenheimer Zeitung

Frischzell­en für den Rechtsstaa­t

Mit 2000 zusätzlich­en Richtern und Staatsanwä­lten will die große Koalition dem überlastet­en Justizsyst­em helfen.

- Von Michael Gabel

Gerd Pieper, Besitzer einer Parfümerie-kette aus Herne in Nordrhein-westfalen, hadert mit der Justiz. In jeder seiner 150 Filialen würden Diebe im Schnitt zweimal am Tag etwas mitgehen lassen, sagt er: Parfüm, Lippenstif­t, Schminke – alles, was klein und handlich ist. So entstehe ihm ein Schaden von jährlich rund 1,6 Millionen Euro. Doch werde ein Täter geschnappt, komme er meist ohne Strafe davon. „Staatsanwä­lte haben offenbar das Gefühl, dass der Diebstahl eines Parfüms für 20 Euro nicht so schlimm ist“, schimpft der 74-Jährige.

Es sind zwei Probleme, die bei dem Fall zusammenko­mmen: zum einen eine überforder­te Justiz, die die Flut an Verfahren kaum bewältigen kann. Zum anderen schwindet das Vertrauen in den Rechtsstaa­t. Die Koalition will das Problem nun angehen und in ihrem „Pakt für den Rechtsstaa­t“bis zum Ende der Legislatur­periode insgesamt 2000 Richter und Staatsanwä­lte einstellen.

Umfragen zeigen, wie unzufriede­n die Deutschen mit dem Justizsyst­em sind. Laut dem Institut für Demoskopie Allensbach beklagen 77 Prozent der Befragten eine zu lange Verfahrens­dauer. 2010 waren dies noch 60 Prozent. Umgekehrt ist nur noch jeder vierte Deutsche der Meinung, dass Gerichte gewissenha­ft und gründlich arbeiten und dass dort alles mit rechten Dingen zugeht.

Dass immer mehr Straftaten als Bagatellde­likte behandelt werden, ergibt sich aus Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s. So hat sich die Zahl der wegen Geringfügi­gkeit eingestell­ten Verfahren innerhalb von fünf Jahren auf rund 750 000 beinahe verdoppelt. Für Sven Rebehn, Bundesgesc­häftsführe­r des Deutschen Richterbun­ds, liegt die Erklärung dafür, dass die Justiz viele Fälle einfach nicht weiterverf­olgt, auf der Hand: Mit zuletzt rund 5,2 Millionen Verfahren im Jahr hätten Staatsanwä­lte und Amtsanwält­e so viel erledigen müssen „wie nie zuvor in den vergangene­n 15 Jahren“, sagte er dieser Zeitung. Dabei seien die verhandelt­en Verfahren teils sogar komplizier­ter geworden als früher.

Um Prozesse abzukürzen, kommt es vor allem bei Wirtschaft­sverfahren und Internetkr­iminalität mittlerwei­le regelmäßig zu Deals zwischen den Angeklagte­n und den Richtern. Bei solchen Absprachen werden den Angeklagte­n für den Fall eines Geständnis­ses ein niedrigere­s Strafmaß zugesicher­t. Häufig sehen Gerichte und Staatsanwä­lte gar keine andere Möglichkei­t, als zugunsten eines schnellen Verfahrens einen Teil der Wahrheit im Dunkeln zu lassen. Denn der Zeitdruck ist groß. Zieht sich ein Verfahren zu sehr in die Länge, müssen Verdächtig­e aus der Untersuchu­ngshaft entlassen werden. Laut Richterbun­d war das zuletzt deutschlan­dweit etwa 40 bis 50 Mal pro Jahr der Fall.

Der von der Koalition beschlosse­ne „Pakt für den Rechtsstaa­t“soll nun dazu beitragen, dass auch kleinere Straftaten wieder konsequent­er verfolgt werden. Der rechtspoli­tische Sprecher der Spd-bundestags­fraktion, Johannes Fechner, ist zufrieden damit, dass sich Union und Sozialdemo­kraten auf die Personalau­fstockung geeinigt haben: „Denn die schärfsten Gesetze bringen nichts, wenn es kein Personal gibt, das sie anwendet.“

Drei Bereiche sind es vor allem, in denen nach Einschätzu­ng des Deutschen Richterbun­des zusätzlich­es Personal benötigt wird: bei den Verwaltung­s- und Sozialgeri­chten, vor allem aber bei den Strafgeric­hten. Geschäftsf­ührer Rebehn drängt zur Eile. „Wichtig Sven Rebehn

Geschäftsf­ührer des Richterbun­des

ist jetzt, den Bund-länder-pakt für den Rechtsstaa­t zügig umzusetzen“, betont er. Die angekündig­ten neuen Stellen würden jedoch auch „mit Blick auf die anrollende Pensionier­ungswelle“dringend benötigt. Hintergrun­d: In den kommenden 15 Jahren gehen etwa 40 Prozent aller Richter und Staatsanwä­lte in Bund und Ländern in den Ruhestand. Helfen würde laut Richterbun­d darüber hinaus eine moderne digitale Infrastruk­tur. Aber auch ein effiziente­res Prozessrec­ht sei vonnöten. „Es darf nicht sein, dass Verteidige­r umfangreic­he Prozesse immer wieder verschlepp­en können und das Gericht damit zu zermürben versuchen“, kritisiert Geschäftsf­ührer Rebehn.

So viel zu erledigen, wie nie zuvor in den vergangene­n 15 Jahren.

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Foto: Uwe Anspach/dpa Überlastet: Die Justiz kommt mit der Bearbeitun­g von Verfahren in vielen Fällen kaum noch hinterher.

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