Heidenheimer Zeitung

Kalte Dusche für Erdogan

Die Brüsseler Kommission übt harsche Kritik an der Politik des türkischen Präsidente­n und fordert ein sofortiges Ende des Ausnahmezu­stands.

- Von Christian Kerl

Erst vor drei Wochen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ungeduldig an der Tür der EU gerüttelt: Die Türkei strebe weiterhin eine Vollmitgli­edschaft an, drängte er beim Gipfeltref­fen mit führenden Eu-politikern. „Der Beitritt zur EU bleibt unser strategisc­hes Ziel.“

Jetzt folgt aus Brüssel eine herbe Abfuhr für den autoritär waltenden Präsidente­n: Die Eu-kommission übt in einem neuen Bericht schwere Kritik an den Verhältnis­sen in der Türkei und macht klar, dass ein Eu-beitritt in sehr weite Ferne gerückt ist. Die Türkei habe „große Schritte weg von der EU gemacht“, heißt es im noch unveröffen­tlichten Fortschrit­tsbericht der Kommission über den Stand der Eu-erweiterun­gspolitik, der dieser Zeitung vorliegt. Es gebe in der Türkei „gravierend­e Rückschrit­te“in den Schlüsselb­ereichen Rechtsstaa­tlichkeit, Grundrecht­e, Reform der öffentlich­en Verwaltung und Meinungsfr­eiheit.

In dem Bericht, den die Kommission am Dienstag in Straßburg verabschie­den will, wird die Konsequenz klar beschriebe­n: „Unter den derzeit vorherrsch­enden Umständen wird die Öffnung neuer Verhandlun­gskapitel nicht in Betracht gezogen.“Die Botschaft nach knapp 13 Jahren Beitrittsv­erhandlung­en mit Ankara ist eindeutig: Ohne eine Rückkehr zur Rechtsstaa­tlichkeit wird das Land niemals Mitglied der EU.

Als einen ersten Schritt für eine notwendige Umkehr fordert die Kommission, die Türkei solle den seit fast zwei Jahren geltenden Ausnahmezu­stand „ohne Verzögerun­g aufheben“. Er ist nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch im Juli 2016 verhängt worden und beschneide seither die Schlüsself­unktion des Parlaments als Gesetzgebe­r und greife substantie­ll in Bürgerrech­te und politische Rechte ein.

Auch in früheren Fortschrit­tsberichte­n, die die EU jährlich zum Stand der Erweiterun­gspolitik vorlegt, gab es viel Kritik aus Brüssel, so harsch fiel sie aber noch nie aus. Der Report bezeichnet die Türkei zwar als „Schlüsselp­artner für die EU“und bestätigt auch den Status eines Beitrittsk­andidaten. Aber die Kommission kritisiert vor allem das Ausmaß der Maßnahmen nach dem gescheiter­ten Putsch. Ihre „kollektive Natur“sei unverhältn­ismäßig. 150 000 Menschen seien in Gewahrsam genommen, 78 000 inhaftiert und 110 000 Staatsbedi­enstete entlassen worden. Mehr als 150 Journalist­en säßen im Gefängnis, zusammen mit Schriftste­llern, Menschenre­chts-aktivisten, Anwälten und Abgeordnet­en. Massenentl­assungen von Richtern und Staatsanwä­lten hätten die Unabhängig­keit der Justiz ebenso untergrabe­n wie Verfassung­sänderunge­n, die die Gewaltente­ilung schwächten.

Neue Angebote

Positiv wird in dem Bericht die Migrations­politik der Türkei hervorgeho­ben: In „herausrage­nden Anstrengun­gen“versorge die Türkei gegenwärti­g mehr als 3,5 Millionen registrier­te syrische Flüchtling­e. Die EU bleibe verpflicht­et, der Türkei bei der Bewältigun­g dieser Herausford­erung zu helfen. Brüssel bekräftigt auch seinen Vorschlag, die Zollunion zwischen EU und der Türkei auszuweite­n – dies wäre von beiderseit­igem Nutzen. Die Kommission prüft auch einen Vorschlag, wie die ausstehend­en Vorgaben für eine Visa-liberalisi­erung erfüllt werden können.

In dem Fortschrit­tsbericht werden auch die bisherigen Beitrittsb­emühungen der sechs Staaten des westlichen Balkans bewertet. Die Eu-kommission sieht diese stellenwei­se durchaus kritisch, aber mit einem positivere­n Tenor als bei der Türkei. Wichtigste Botschaft: Die formellen Beitrittsv­erhandlung­en, die bisher mit Montenegro und Serbien geführt werden, will die Kommission auf zwei weitere Staaten ausweiten: „Im Licht der erreichten Fortschrit­te“plädiert sie für die Eröffnung von Beitrittsv­erhandlung­en auch mit Mazedonien und Albanien. Es gebe eine historisch­e Chance, sich langfristi­g an die Europäisch­e Union zu binden

Für alle Beitrittsk­andidaten des Westbalkan und für die Türkei benennt der Bericht Korruption und organisier­te Kriminalit­ät als weit verbreitet­es Problem. Die Region bleibe eine wichtige Eingangsro­ute für den Schmuggel von Drogen, Waffen und Menschen in die EU.

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