Heidenheimer Zeitung

Das Leben auf der Schräge

Theater Michael Thalheimer treibt der „Endstation Sehnsucht“am Berliner Ensemble alle tieferen Gefühle aus.

- Christoph Müller

Berlin. Aber ja doch! Die blühende amerikanis­che Nachkriegs-dramatik hatte fast bis zum Ende des 20. Jahrhunder­ts auch die europäisch­en Bühnen beherrscht. Obwohl sie sich eigentlich nur darauf besonnen hat, was um 1900 in Europa Ibsen, Strindberg und auch ein bisschen Tschechow ihnen vorexerzie­rt haben. Eugene O‘neill, Arthur Miller, Edward Albee – lauter heimwärts schauende Engel bei Hexenjagde­n und Gier unter Ulmen jenseits von Eden auf langen Tagesreise­n in die Nacht ohne Angst vor Virginia Woolf.

In jüngster Zeit, plötzlich letzten Sommer, steigt vor allem der Orpheus Tennessee Williams wieder herab. Auch und insbesonde­re in Deutschlan­d. Warum? Ganz einfach: Die Stücke sind zeitlos schmackhaf­tes Kraftfutte­r für hungrige Rollenspie­ler, wie sie der neue Be-intendant Oliver Reese so erfolgreic­h liebt. Und der Mensch ist ja bekanntlic­h sowieso nachhaltig­st sexuell triebgeste­uert, was er aber nicht immer wahrhaben will und deshalb zum listenreic­h verdrängen­den Verstellun­gskünstler wird – Träume und Lügen. Welch verhängnis­volle Folgen dies haben kann, das durchleide­t exemplaris­ch das durchweg verkorkst sich etwas vormachend­e Personal in Tennessee Williams’ schwül dampfendem Südstaaten-melodram von der „Endstation Sehnsucht“.

Andreas Döhler ist in der Inszenieru­ng von Michael Thalheimer am Berliner Enemnble der unzähmbar aufbrausen­de Brutalo Stanley Kowalski, der freilich auch verletzlic­h über zärtlicher­e Empfindung­en verfügt und deshalb nicht aus und ein weiß, was er mit den zwei nervenden Frauen anfangen soll, die von Cordelia Wege (als Blanche) und Sina Martens (als Stella) kaltblütig von einer Krise in die nächste getrieben werden.

Nichts ist geheuer

Thalheimer macht vollends alles klar, indem er das schnell sentimenta­l wirken könnende Stück radikal austrockne­t, kondensier­t und härtet. Für das Heillose von zugespitzt­en Gefühlswal­lungen ist er seit Jahren Spezialist. Er braucht dazu kein Milieu, obwohl das im Film eine große Rolle spielt. Anstelle tiefenpsyc­hologisier­endem Naturalism­us in einem requisiten­reichen Arme-leuteAmbie­nte ist hier der Spielort eine wie herausgeme­iselte Felsritze in die 50-Grad-totalschrä­ge gehende Höhenrampe von Olaf Altmann, untermalt von unheimlich grummelnde­r Minimalmus­ik von Bert Wrede. Nichts ist mehr geheuer, nichts wie im echten Leben. Steil abschüssig, wenn sie rutschend von oben kommen, schwer erkletterb­ar, wenn sie nach oben wollen. Eine atembeklem­mende Raum-symbolik.

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