Gibt es eine Pflicht zur Pflege?
Angehörige haben eine besondere Verantwortung für ihre Nächsten. Doch wie weit reicht diese?
irreführendes Wort in menschlichen Beziehungen. Verbundenheit und Liebe lassen sich nicht erzwingen oder gar einklagen – weder von Eltern zu Kindern, noch, später, von der erwachsenen Generation zu den Älteren. Man kann sie erhoffen, erwarten und – von außen unterstützen. Der Staat und soziale Einrichtungen tun das gegenüber pflegenden Angehörigen, wenn auch begrenzt.
Gleichwohl gibt es eine Pflicht zur Verantwortungsübernahme gegenüber Eltern oder dem Ehepartner. Dafür stehen in einer kapitalistischen Gesellschaft monetäre Regelungen zwischen dem Staat und Angehörigen von Pflegebedürftigen.
Erwartet, erhofft werden darf aber mehr.
Pflege heißt nicht, versorgen und betreuen bis für den Pflegenden selbst der Notarzt kommt. Nächstenliebe gibt es schon biblisch nur als Zwillingspaar – durch die Eigenliebe/eigenverantwortung ergänzt. Deshalb lenkt moralischer Druck auf die falsche Spur. Doch eine breite Verantwortung innerhalb der Familie darf eingefordert werden. Sie sieht in jedem Einzelfall anders aus. Nicht jeder hat die räumliche Voraussetzung für die Pflege zuhause, nicht jeder kann sich für unbestimmte Zeit frei machen vom Arbeitsplatz, oft leben Familienmitglieder zudem über hunderte Kilometer getrennt.
Deshalb muss eine Pflicht zur Pflege breiter verstanden werden: als Pflicht zur Verantwortung für den Angehörigen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich diese in aufmerksamen Besuchen in Pflegeheimen niederschlagen würde. Missstände bleiben dort unentdeckt, wo sich kein Außenstehender mehr um die Bewohner kümmert. Pflegebedürftigkeit ist ein ähnlich belastetes, häufig verdrängtes Thema wie der Tod. Mit dem Unterschied allerdings, dass man sich bei der Pflege noch leichter selbst belügen kann. Der Tod trifft jeden, die Pflegebedürftigkeit nicht. Dennoch ist Ausweichen die schlechteste Lösung. Jeder sollte sich seinen eigenen Wünschen und Ängsten stellen – spätestens dann, wenn die eigenen Eltern alt werden.
In vielen Familien gibt es die unausgesprochene Erwartung, dass die Kinder für die Eltern da sein sollten, wenn es nötig wird. Sich davon freizumachen ist schwierig, aber nötig. Denn eine moralische Verpflichtung gibt es nicht. Natürlich, die Eltern haben ihre Kinder großgezogen – aber das war deren Entscheidung, nicht die des Nachwuchses. Und häufig haben die Eltern zwar Geld und Nerven gelassen, aber Freude und Liebe zurückbekommen. Pflege im Alter darf nicht dagegen aufgerechnet werden. Es ist die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder aufzuziehen und dann in die Freiheit zu entlassen. Was die Kinder mit dieser Freiheit anfangen, ist ihre Sache. Pflege aus Pflichtgefühl – oder noch schlimmer: aus Schuldgefühlen – hilft niemandem.
Deshalb ist es so wichtig, das Thema rechtzeitig aus der Tabu-zone zu holen. Wenn die Kinder ihre Eltern pflegen wollen – umso besser. Doch die Entscheidung sollte aus Liebe fallen. Im Idealfall fällt auch die Entscheidung fürs Heim im Einvernehmen. Und wenn das Tabuthema Pflege ohnehin ansteht, sollten wir auch politisch den Druck erhöhen: für bessere Zustände in den Pflegeheimen, besser bezahlte Fachkräfte und eine bessere Personalausstattung. Damit die Entscheidung, die Eltern zu pflegen, eine freie Entscheidung sein kann.