Heidenheimer Zeitung

Plötzlich ziehen die Richter mit

Die Justiz entscheide­t inzwischen immer häufiger im Sinne der Behörden – auch weil die Infektions­zahlen explodiert sind, sagt ein Verfassung­srechtler.

- Von Michael Gabel

Die Pandemie lähmt zwar die Wirtschaft. Aber für die Justiz bedeutet die Krise Mehrarbeit. Rund 600 Eilanträge gegen das neuerliche Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens hat der Deutsche Richterbun­d seit Anfang November gezählt. Seit Beginn der Pandemie gab es etwa 6000 Klagen und Eilanträge. Was auffällt: Die Gerichte geben den Behörden inzwischen öfter Recht. Antworten auf die wichtigste­n Fragen.

1 Worum ging es bei den ersten Verfahren seit dem neuerliche­n

Teil-herunterfa­hren? Theaterbes­itzer Didi Hallervord­en, die Veranstalt­erin eines Goldschmie­dekurses, ein Urlauberpa­ar auf Sylt – sie alle stellten Eilanträge bei Verwaltung­sgerichten. Jeweils ohne Erfolg. Die Argumentat­ion der Gerichte lautete stets ähnlich: Die Infektions­lage habe sich dramatisch verschlech­tert. Insofern seien die jeweiligen Vorgaben „nicht unverhältn­ismäßig“. Beim Theater sei das Problem der lange Aufenthalt in einem geschlosse­nen Raum. Ein Goldschmie­dekurs gelte als Freizeitve­ranstaltun­g. Und das Beherbergu­ngsverbot auf Sylt sei geeignet, um die Pandemie abzuschwäc­hen. Bei Urteilen zu Gaststätte­n zeichnet sich dieselbe Entwicklun­g ab: Hatten Mitte Oktober Berliner Gastronome­n mit Eilanträge­n gegen Schließung­en noch Erfolg, so lehnten Gerichte einen Monat später ähnliche Anträge ab.

2 Wieso hat sich die Haltung der Gerichte seit Sommer und Frühherbst zum Beispiel bei Beherbergu­ngsverbote­n so deutlich geändert? Der Verfassung­srechtler

Lars Viellechne­r nennt als Grund die „veränderte Tatsacheng­rundlage“. „Im Sommer hatten die Infektions­zahlen abgenommen, jetzt steigen sie wieder. Das kann dazu führen, dass Maßnahmen, bei denen man im Sommer noch gesagt hat, sie seien unverhältn­ismäßig, inzwischen anders zu beurteilen sind“, erläutert der Professor an der Universitä­t Bremen im Gespräch mit dieser Zeitung. Versäumt worden sei allerdings lange Zeit, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf eine sichere rechtliche Grundlage zu stellen. 3 Warum kommt es aber auch jetzt noch zu unterschie­dlichen Entscheidu­ngen – so wird innerhalb weniger Tage in einem Bundesland das Verbot, Fitnessstu­dios offenzuhal­ten, gekippt, im anderen nicht? Viellechne­r verteidigt das mit dem Hinweis auf mögliche regionale Besonderhe­iten. „Wegen der föderalen Struktur der Bundesrepu­blik befassen sich die jeweiligen Landesgeri­chte mit den Anträgen. Wenn dann zum Beispiel die Infektions­lage unterschie­dlich ist, können auch die gerichtlic­hen Entscheidu­ngen unterschie­dlich ausfallen.“

4 Ist das Hin und Her ein Zeichen dafür, dass in unserem Rechtsstaa­t etwas nicht

stimmt? Der Bremer Rechtsprof­essor sieht das nicht so. „Die Stärke des Föderalism­us ist es, dass die Regelungen an die regionalen Umstände angepasst werden können“, sagt er. Zudem hätten die Gerichte auch Auslegungs­spielräume. Diese würden aber dadurch „nivelliert, dass es Instanzenz­üge gibt und oberste Bundesgeri­chte, die auf Bundeseben­e für eine gewisse Rechtseinh­eit sorgen“.

5 Welche Rolle spielt das jetzt beschlosse­ne überarbeit­ete Infektions­schutzgese­tz?

Unter Juristen herrscht weitgehend Einigkeit, dass es allerhöchs­te Zeit war, den Infektions­schutz auf eine neue, vom Parlament per Gesetz beschlosse­ne rechtliche Grundlage zu stellen. Inwieweit diese jetzt trägt, ist offen. Nach Einschätzu­ng des früheren nordrhein-westfälisc­hen Verfassung­sgerichtsp­räsidenten Michael Bertrams verstößt die Novelle gegen das Grundgeset­z. Er kritisiert, dass in dem Gesetz Corona-maßnahmen aufgeliste­t würden, „ohne jede Abwägung mit den betroffene­n Freiheitsr­echten“. So werde zum Beispiel nicht klar, warum ausgerechn­et die Schließung von Restaurant­s etwas zur Eindämmung der Pandemie beitragen soll. Es wird damit gerechnet, dass der Streit über das überarbeit­ete Infektions­schutzgese­tz am Ende vor dem Bundesverf­assungsger­icht ausgetrage­n wird.

6 Sind durch die häufige Beschäftig­ung mit Pandemie-themen die Gerichte für andere Verfahren blockiert? Ganz so dramatisch ist es nicht. Es hänge davon ab, „wie viele weitere Verfahren in den nächsten Wochen und Monaten auf Gerichte und Staatsanwa­ltschaften zukommen“, heißt es beim Deutschen Richterbun­d. Betroffen seien vor allem die Verwaltung­sgerichte. „Aber auch auf die Arbeitsger­ichte könnten in großer Zahl Kündigungs­schutzund Zahlungspr­ozesse zukommen, während die Zivilgeric­hte zusätzlich­e Klagen wegen der wirtschaft­lichen Folgen von Corona-auflagen erwarten.“Die Strafjusti­z ist mit der Pandemie insofern beschäftig­t, als Verdachtsf­älle wegen erschliche­ner Corona-soforthilf­en bearbeitet werden. Engpässe sieht der Richterbun­d weniger wegen der Zahl der Verfahren als wegen der Eilbedürft­igkeit, die „eine starke Arbeitsbel­astung für die zuständige­n Richterinn­en und Richter“zur Folge habe.

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Foto: Jörg Carstensen/dpa Notlösung Außer-haus-verkauf: Restaurant­s mussten erneut ihren Betrieb herunterfa­hren.
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FOTO: ©CHODYRA MIKE/ SHUTTERSTO­CK.COM

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