Heidenheimer Zeitung

„Ein Buch ist eine andere Hausnummer als ein Songtext“

Achim Reichel war mit den Rattles bereits zu Beat-zeiten ein Star, gab Volksliede­rn ein Rock-gewand – und hat nun auch seine Autobiogra­fie zum Hit gemacht.

- Von Udo Eberl

Achim Reichel hat Popgeschic­hte geschriebe­n. Der höchst vitale 78-Jährige, der im Gespräch nur so sprudelt, war mit seinen Rattles unter anderem mit den Beatles oder den Rolling Stones auf Tour. Später verpasste er Seemannsli­edern und deutscher Lyrik ein Rockgewand. Zum Schreiben seiner Autobiogra­fie „Ich hab das Paradies gesehen“zog er sich auf ein Containers­chiff zurück. Das Ergebnis enterte auf Anhieb die Spiegel-bestseller­liste.

Ein großer Teil Ihres Buchs entstand auf der „Blue Master 2“, einem Frachtschi­ff, mit dem sie als Passagier nach Namibia reisten. Warum? Achim Reichel:

Nach fünf Jahren musste ich akzeptiere­n, dass man ein Buch nicht nebenher schreiben kann. Frank Schätzing hatte mir Einsamkeit für den Schreibpro­zess empfohlen. Ich brauchte also eine Klausur-situation ohne Störungen. Ich stamme ja aus einer Hamburger Seefahrer-familie und wäre vor 60 Jahre nicht die Gitarre dazwischen­gekommen, ich wäre wohl auch zur See gefahren. Da schien mir ein Schiff auf hoher See ein idealer Rückzugsor­t zu sein. Ich war neben der Crew der einzige Passagier.

Sie haben bewusst auf einen Co-writer verzichtet. Kamen beim Schreiben auf der Langstreck­e auch Selbstzwei­fel auf?

Ich war mir ja sehr wohl bewusst, dass ich kein routiniert­er Profi-autor bin. Ein Buch ist natürlich eine andere Hausnummer als ein Songtext. Ich habe mich von meinem Buch- und Bauchgefüh­l leiten lassen, nicht von einem „Das macht man so“oder bewährten Regeln. Für mich sollte der Schreibpro­zess vor allem eine freudvolle Unternehmu­ng sein. Dass dieses Buch ein Bestseller wird, konnte niemand ahnen.

Das schreit ja geradezu nach einem weiteren Buch.

Sagt der Verlag auch. Und ich denke darüber nach. Aber: Über was soll ich schreiben, und wie bewahre ich mir die Unbefangen­heit? Wenn ich in den sechs vergangene­n Jahrzehnte­n etwas gelernt habe, dann, dass sich Hits wie „Der Spieler“oder „Aloha heja he“nicht programmie­ren lassen. Glück, Zufall, der kleine Mann im Ohr, der einem Ideen einflüster­t – da spielt einiges mit.

Wie wichtig ist Ihnen die Authentizi­tät als Künstler?

Wenn das bedeutet, dass ich immer meiner inneren Stimme folge, dann bin ich wohl authentisc­h. Ich wollte niemals den Markt oder gar mein Publikum ausrechnen. Ich hatte das Glück, mich relativ früh selbst finden und das Business kennenlern­en zu dürfen. In der Zeit mit den Rattles erlebten wir beispielsw­eise, was der Erfolg mit den jungen Rolling Stones oder den Beatles machte, mit denen wir auf Tour waren. Es gibt so viele Begehrlich­keiten der Medien und Fans, Fremdbesti­mmung und Schubladen­denken. Die waren nur noch Sklaven ihres Protokolls.

Und Sie folgten Ihrer Stimme mit psychedeli­schen Sounds, einem Shanty-album, deutschem Rock und ihren erfolgreic­hen „Volxlieder­n“.

Ganz vorurteils­frei gehört, sind deutsche Volksliede­r keineswegs schlechter als die aus Irland, und man muss ja seine kulturelle­n Wurzeln nicht in die Tonne treten. Ich hatte nie Berührungs­ängste, ging das Projekt beherzt an und dachte: Mehr als vom Hof jagen können sie mich ja nicht. Am Ende wurde die Scheibe sogar tief im Süden beim Bayerische­n Rundfunk Album des Jahres.

In ihrem Buch streift man mit Ihnen gemeinsam unter anderem durch das St. Pauli ihrer Kindheit und des legendären Star Clubs, dessen Boss Sie am Ende waren.

Ich bin ja dort aufgewachs­en, wo Nepp, Bauernfäng­erei und käufliche Liebe zum Alltag gehören. Ich kannte es nicht anders und kann nur auf Holz klopfen, dass ich da heil herausgeko­mmen bin. St. Pauli war für uns junge Beat-musiker aber auch wie ein Sechser im Lotto. Wir konnten in vier Live-clubs die angesagtes­ten Bands live erleben und selbst dort spielen.

Ihrem Projekt „A.R. & Machines“, das sie 1970 starteten, geben Sie im Buch besonders viel Raum. Sie waren Ihrer Zeit damals weit voraus.

Es war großartig, Musik zu machen, die nicht so klang wie bereits Gehörtes, auch wenn mir klar war, dass die Stücke des Albums „Die grüne Reise“nie im Radio oder in Discos gespielt würden. In den Musikzeits­chriften wurde die Platte total zerrissen. Dass ich mit den Experiment­en mit dem Bandgerät Akai X-330D zu einem Pionier der Loop-technik werden sollte und mich später Klangkünst­ler wie Brian Eno dafür adeln würden, konnte ich da nicht wissen.

Heute ist es für junge Musiker nicht leichter, den eigenen formatlose­n Weg zu gehen.

Ich möchte nicht in deren Haut stecken. So viel Idealismus kann man kaum haben, sich heute noch aufs Musikbusin­ess einzulasse­n, in dem man digital völlig ausgesaugt wird. Mir ist in meiner Karriere sehr viel zugefallen, und die Plattenfir­men haben mich oft einfach machen lassen. Außerdem habe ich immer das Kleingedru­ckte in Verträgen gelesen und blieb immer der Eigner meines gesamten Musikkatal­ogs. Vielleicht hat mich deshalb die Musik durch mein ganzes Leben tragen können, und das ist zu schön, um wahr zu sein.

Ich bin da aufgewachs­en, wo Nepp und käufliche Liebe zum Alltag gehören.

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Auf der Bühne fühlt sich Achim Reichel wohl. Zum Schreiben ging er aber allein auf ein Frachtschi­ff.
 ??  ?? Achim Reichel: Ich hab das Paradies gesehen. Mein Leben. Rowohlt Buchverlag, 416 Seiten, 24 Euro.
Achim Reichel: Ich hab das Paradies gesehen. Mein Leben. Rowohlt Buchverlag, 416 Seiten, 24 Euro.

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