Heidenheimer Zeitung

Zu hohe Erwartunge­n

- Igor Steinle über Corona-app und Datenschut­z leitartike­l@swp.de

Die deutsche Corona-warn-app ist zuletzt ziemlich unter Beschuss geraten. Zusammenge­fasst lauten die Vorwürfe, die App habe aufgrund ihres hohen Datenschut­zniveaus keinen Nutzen, man müsse die Standards absenken, um sie effektiver zu machen. Der Frust ist nachvollzi­ehbar. Denn die Pandemie hat eine bemerkensw­erte Wertehiera­rchie in Deutschlan­d zutage gebracht: Während das Recht auf Freizügigk­eit, die Berufsfrei­heit, das Recht auf Entfaltung der Persönlich­keit oder die Versammlun­gsfreiheit wie selbstvers­tändlich eingeschrä­nkt wurden, bleibt das Recht auf informatio­nelle Selbstbest­immung im Kampf gegen das Virus unangetast­et.

Damit befindet sich Deutschlan­d im Pandemieja­hr 2020 in der schizophre­nen Situation, dass der Durchschni­ttsbürger tagtäglich bereitwill­ig intimste Informatio­nen an undurchsic­htige Konzerne wie Google, Facebook und Amazon weitergibt, während die Corona-warn-app zu einem Fort Knox des Datenschut­zes aufgebaut wurde, weil sie ansonsten aus Angst vor dem Überwachun­gsstaat niemand nutzen würde.

So verständli­ch der Vorwurf der übertriebe­nen Datenspars­amkeit auch sein mag – er bringt uns nicht weiter. Die Kontaktdat­en der App werden nämlich auch deswegen datenschut­zfreundlic­h-dezentral auf den jeweils eigenen Smartphone­s und nicht auf einem zentralen Server gespeicher­t, weil Google und Apple es so wollten. Ansonsten hätten sie ihr Betriebssy­stem nicht freigegebe­n. Wäre es anders, könnten Infektions­wege viel leichter nachvollzo­gen werden, ohne dass Nutzer zwingend ihre Anonymität aufgeben müssen. Gedankensp­iele, die App jetzt noch umzubauen, sind dennoch müßig. Nicht nur würden es die beiden Handygigan­ten nicht zulassen. Bis eine neue App auf den Markt käme und ausreichen­d Nutzer hätte, wäre zudem wohl bereits halb Deutschlan­d durchgeimp­ft.

Die Erwartunge­n an eine App zur Pandemie-eindämmung sind ohnehin zu hoch. Im oft als Vorbild genannten Südkorea etwa ist es nicht nur die viel gepriesene App, die eine erfolgreic­he Kontaktnac­hverfolgun­g ermöglicht, sondern das Überwachun­gs-ökosystem als Ganzes: Zahlungsda­ten, Chatverläu­fe und Überwachun­gskameras werden minutiös ausgewerte­t. Will das jemand ernsthaft in Deutschlan­d haben? Das heißt jedoch nicht, dass

Ist das Virus irgendwann überwunden, wäre eine generelle Debatte über Datenschut­z nötig.

man die Anwendung nicht weiter optimieren könnte. Die jüngsten Verbesseru­ngen des RKI haben das Potenzial der App noch lange nicht ausgeschöp­ft. Testergebn­isse etwa könnten automatisc­h registrier­t und die Clustererk­ennung verbessert werden. Ist das Virus irgendwann überwunden, wäre außerdem eine generelle Debatte über Datenschut­z in Deutschlan­d nötig. Die momentane Situation, in der Datenkrake­n wie Facebook und Google weiterhin nahezu unbehellig­t tun und lassen können was sie wollen, während kleinere Unternehme­n mit Bürokratie schikanier­t und Internetnu­tzer dem Cookie-wahnsinn überlassen werden, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Hier muss die Datenschut­zgrundvero­rdnung zwingend nachgebess­ert werden.

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