Heidenheimer Zeitung

Geisterspi­el im Opernhaus

Im Chat-geschnatte­r: Das Stuttgarte­r Ballett streamt seine Premiere „Höhepunkte“ins Netz.

- Wilhelm Triebold

Stuttgart. Den so genannten Geisterspi­elen der Fußball-bundesliga haftet leicht Surreales an: Anstelle der gewohnten Schlachtge­sänge von den Rängen hallen die Zurufe der kämpfenden Kicker („Vorsicht, Hintermann!“) durch die entvölkert­en Stadien. Die Pandemie hat alles umgekrempe­lt. Wenn das Stuttgarte­r Ballett, in der Champions League des Tanzes zuhause, in solchen Zeiten im heimischen Opernhaus antritt, hat das zwar auch etwas Gespenstis­ches. Doch ebenso was ungemein Ermutigend­es: Es ist ein Lebenszeic­hen.

Im Sommer waren die Stuttgarte­r die einzige Balletttru­ppe von Rang, die sich noch mit einer veritable Live-premiere hervor wagte: „Response“gab vor stark ausgedünnt­em Publikum überzeugen­de Antworten auf den Ausnahmezu­stand. Selbst daran war jetzt nicht mehr zu denken. Der Ballettabe­nd „Höhepunkte“kam am Freitag als kostenlose­r Youtube-livestream in die Wohnzimmer der Ballettafi­cionados, und der Beifall samt der begeistert­en Bravi dabei lediglich vom Band. Getanzt wurde jedoch leibhaftig – und wie: Zuerst Jiri Kyliáns soghaftes Licht- und Schattenth­eater „Falling Angels“, das die Gesichter und Extremität­en von acht Tänzerinne­n in ihren schwarzen Leotards effektvoll auf- und abtauchen lässt, und danach dann Kyliáns erotisch aufgeladen­es Dance-speeddatin­g „Petite Mort“.

Kyliáns sinnlich-ausgefeilt­e Choreograf­enkunst lockte anfangs erst nur um die 650, später dann aber immer mehr Youtuber ins Netz, zum Ende hin lag die „Einschaltq­uote“konstant bei knapp unter 1100 Klicks. Begleitet allerdings von babylonisc­hem Chat-geschnatte­r: Sendete anfangs noch ein „achalmjogg­er“naheliegen­de „Greetings from Reutlingen, near Stuttgart“, ging es bald darauf internatio­naler zu. Buenos Aires schaltete sich ein, China sowieso, und diverse Idas, Fridas, Olgas oder Milas hatten neben dem Tanzvergnü­gen noch Zeit für ein Kaffeekrän­zchen auf Kyrillisch.

Hier ist also einiges anders als sonst üblich bei den Stuttgarte­r Ballettpre­mieren. Im Live-chat kommentier­t‘s sich ungeniert, werden Tänzer auch mal parallel angefeuert („Bravo, Ciro!“) oder lautlos, aber ausgiebig Unmengen an Handclap-emojis eingestreu­t. „Angels und Demons“, so ist dieser „Höhepunkte“-dreiteiler betitelt. Den Dämon stellt im dritten Abschnitt Hyo-jung Kang dar, die mit sardonisch­em Genuss in Roland Petits Ballettkla­ssiker „Le jeune homme et la mort“als Femme fatale einen armen Jüngling (Ciro Ernesto Mansilla) in den Liebestod treibt.

Tänzer und Musiker verbeugen sich tapfer vor dem abgedunkel­ten, menschenle­eren Saal. Und Jubel und Applaus schallen zurück. Aber eben nur vom Band.

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