Geisterspiel im Opernhaus
Im Chat-geschnatter: Das Stuttgarter Ballett streamt seine Premiere „Höhepunkte“ins Netz.
Stuttgart. Den so genannten Geisterspielen der Fußball-bundesliga haftet leicht Surreales an: Anstelle der gewohnten Schlachtgesänge von den Rängen hallen die Zurufe der kämpfenden Kicker („Vorsicht, Hintermann!“) durch die entvölkerten Stadien. Die Pandemie hat alles umgekrempelt. Wenn das Stuttgarter Ballett, in der Champions League des Tanzes zuhause, in solchen Zeiten im heimischen Opernhaus antritt, hat das zwar auch etwas Gespenstisches. Doch ebenso was ungemein Ermutigendes: Es ist ein Lebenszeichen.
Im Sommer waren die Stuttgarter die einzige Balletttruppe von Rang, die sich noch mit einer veritable Live-premiere hervor wagte: „Response“gab vor stark ausgedünntem Publikum überzeugende Antworten auf den Ausnahmezustand. Selbst daran war jetzt nicht mehr zu denken. Der Ballettabend „Höhepunkte“kam am Freitag als kostenloser Youtube-livestream in die Wohnzimmer der Ballettaficionados, und der Beifall samt der begeisterten Bravi dabei lediglich vom Band. Getanzt wurde jedoch leibhaftig – und wie: Zuerst Jiri Kyliáns soghaftes Licht- und Schattentheater „Falling Angels“, das die Gesichter und Extremitäten von acht Tänzerinnen in ihren schwarzen Leotards effektvoll auf- und abtauchen lässt, und danach dann Kyliáns erotisch aufgeladenes Dance-speeddating „Petite Mort“.
Kyliáns sinnlich-ausgefeilte Choreografenkunst lockte anfangs erst nur um die 650, später dann aber immer mehr Youtuber ins Netz, zum Ende hin lag die „Einschaltquote“konstant bei knapp unter 1100 Klicks. Begleitet allerdings von babylonischem Chat-geschnatter: Sendete anfangs noch ein „achalmjogger“naheliegende „Greetings from Reutlingen, near Stuttgart“, ging es bald darauf internationaler zu. Buenos Aires schaltete sich ein, China sowieso, und diverse Idas, Fridas, Olgas oder Milas hatten neben dem Tanzvergnügen noch Zeit für ein Kaffeekränzchen auf Kyrillisch.
Hier ist also einiges anders als sonst üblich bei den Stuttgarter Ballettpremieren. Im Live-chat kommentiert‘s sich ungeniert, werden Tänzer auch mal parallel angefeuert („Bravo, Ciro!“) oder lautlos, aber ausgiebig Unmengen an Handclap-emojis eingestreut. „Angels und Demons“, so ist dieser „Höhepunkte“-dreiteiler betitelt. Den Dämon stellt im dritten Abschnitt Hyo-jung Kang dar, die mit sardonischem Genuss in Roland Petits Ballettklassiker „Le jeune homme et la mort“als Femme fatale einen armen Jüngling (Ciro Ernesto Mansilla) in den Liebestod treibt.
Tänzer und Musiker verbeugen sich tapfer vor dem abgedunkelten, menschenleeren Saal. Und Jubel und Applaus schallen zurück. Aber eben nur vom Band.