Heidenheimer Zeitung

Gemeinsam für bessere Pflege?

Bundesarbe­itsministe­r Heil will eine verbindlic­he Vereinbaru­ng für die 1,2 Millionen Beschäftig­ten. Die Wohlfahrts­verbände prüfen das. Widerstand kommt von anderer Seite.

- Von Elisabeth Zoll

Die Misere war im Frühjahr nicht mehr zu übersehen. Fehlten bis dahin in der Altenpfleg­e schon Fachkräfte, spitzte die Corona-krise die Situation in Alten- und Pflegeheim­en noch einmal zu. Wegen gesundheit­licher Vorbelastu­ngen von Pflegekräf­ten oder einer Infektion mit dem Corona-virus schrumpfte der Mitarbeite­rstab in nicht wenigen Häuser bis an die Grenze. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) kündigte an, Abhilfe zu schaffen: mit einer finanziell­en Aufwertung der Pflegearbe­it und einem allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag für die Branche, der Dumpinglöh­ne ausschließ­en soll. Die Vorbereitu­ngen für einen allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag haben die Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi und die Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­r in der Pflegebran­che BVAP im September abgeschlos­sen. Die Frage ist nun: Wer im Pflegebere­ich wird sich dafür erwärmen? Die Frage richtet sich an die Wohlfahrts­verbände Caritas und Diakonie, so wie an private Träger.

Die Wohlfahrts­verbände zählen mit rund 40 Prozent zu den großen Anbietern im Bereich der Altenpfleg­e. Ihre tarifrecht­lichen Angelegenh­eiten regeln sie selbst. Das Grundgeset­z garantiert Kirchen das Recht auf Selbstorga­nisation, und das umfasst auch den Bereich des Arbeitsrec­htes. Kirchliche Arbeitgebe­r kennen weder Verhandlun­gen zwischen Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rn, noch ein Streikrech­t. In den 70er Jahren entwickelt­e sich daraus der sogenannte „Dritte Weg“.

Er sei eine Konsequenz aus der Nachkriegs­zeit und der Erfahrung zweier Diktaturen, sagt der Wirtschaft­sethiker und Professor für evangelisc­he Theologie an der Ruhr-universitä­t Bochum, Traugott Jähnichen. In der Ns-zeit und später auch in der DDR habe die Politik versucht, auf Einrichtun­gen der Diakonie Einfluss zu nehmen. Solche Eingriffe wollten die Väter und Mütter des Grundgeset­zes fortan ausschließ­en.

Die Politik billigte den Kirchen zu, dass sich ihr Dienstrech­t nicht allein an weltlichen Anforderun­gen orientiere­n muss. Man sprach von einer besonderen geistliche­n Gemeinscha­ft und Zusammenge­hörigkeit, und schuf den Begriff der „Dienstgeme­inschaft“. Sie steht für einen Ausgleich der Interessen von Arbeitgebe­rn und Arbeitnehm­ern im Konsens, hat aber auch eine privatrech­tliche Dimension. An Beschäftig­te in kirchliche­n Kindergärt­en, Heimen und Kliniken wurden Ansprüche auch in Bezug auf die persönlich­e Lebensführ­ung gestellt; auf katholisch­er Seite strenger als auf evangelisc­her. Diese Eingriffe wurden durch Gerichte zuletzt in Schranken gewiesen. Geblieben ist auf evangelisc­her Seite eine für Tendenzbet­riebe nicht ungewöhnli­che Loyalitäts­richtlinie,

wonach man nicht aktiv gegen Ziele des Arbeitgebe­rs arbeiten darf.

Für die Beschäftig­ten in Einrichtun­gen der Kirchen war der Sonderweg nicht unbedingt von Nachteil. In kirchliche­n Einrichtun­gen ist der Verdienst meist höher, wenngleich, wie Norbert Beyer, Referatsle­iter Arbeitsrec­ht beim Caritas-verband, einräumt, es starke Unterschie­de zwischen einzelnen Regionen geben könne. Doch: „Der Mindestloh­n im Bereich der Pflege spielt für uns keine Rolle“, sagt Beyer. Die Gehälter liegen durchweg darüber, allerdings im Osten Deutschlan­ds weniger stark als im Westen.

Einem allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ag für die knapp 1,2 Millionen in der Pflege Beschäftig­ten, wie ihn Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) anstrebt, steht der Caritas-verband nicht generell ablehnend gegenüber. „Als Caritas haben wir schon ein grundsätzl­iches Interesse an guten und angemessen­en Entgelten in der Pflege“, sagt Beyer. Welche Auswirkung­en ein Altenpfleg­e-tarifvertr­ag auf den kirchliche­n Sonderweg haben könnte, prüfe die arbeitsrec­htliche Kommission der Caritas. Beyer vermutet: „Der Dritte Weg wird begrenzt, aber nicht ausgesetzt.“

Für die Beschäftig­ten jedenfalls erwartet Beyer keine Nachteile. Liege der für Caritas-beschäftig­te gültige Avr-tarif über den möglichen gesetzlich­en Vorgaben, gelte die für Beschäftig­te bessere Regelung.

Der Wettbewerb um begehrte Pflegekräf­te wird im Westen seit Jahren über den Gehaltszet­tel ausgetrage­n. Abwerbunge­n von schlechter zahlenden Einrichtun­gen sind gang und gäbe. Einzelne Heime, bei denen neben der Entlohnung auch das Arbeitskli­ma stimmt, führen trotz Pflegenots­tand

sogar Warteliste­n mit geeigneten Bewerbern.

Die Diakonie will sich zum Vorstoß vorläufig nicht äußern. Zuerst müsse sich die arbeitsrec­htliche Kommission mit den Vorschläge­n befassen, teilt Pressespre­cherin Kathrin Klinkusch mit. Traugott Jähnichen meint jedoch, eine allgemeinv­erbindlich­e Regelung habe für alle den Vorteil, dass sie nicht unterboten werden könne, auch nicht von privaten Arbeitgebe­rn. Von dieser

Seite werde immer wieder Druck auf die Kostenträg­er ausgeübt, der sich dann oft negativ auf die Lohnentwic­klung niederschl­ägt. Jähnichen: „Ein Flächentar­ifvertrag wäre eine sinnvolle Weiterentw­icklung des Dritten Weges.“

Knapp 60 Prozent der Heime und ambulanten Dienste werden von privaten Arbeitgebe­rn betrieben. Diese lehnen bindende Vorgaben ab und drohen mit dem Bundesverf­assungsger­icht. Nach Angaben des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums haben 2018 nur 40 Prozent der Pflegeheim­e ihre Angestellt­en nach Tarif bezahlt, bei den ambulanten Pflegedien­sten seien es 26 Prozent.

Der Mindestloh­n in der Altenpfleg­e liegt derzeit bei 11,60 Euro im Westen und 11,20 Euro im Osten Deutschlan­ds. Nach Verdi und BVAP soll das Entgelt zum Juli 2021 um rund zehn Prozent über dem Pflegemind­estlohn liegen. In drei Schritten soll der Stundenloh­n für Pflegefach­kräfte auf 18,50 Euro und für Pflegehelf­er auf 14,15 Euro steigen. Auch der Urlaubsans­pruch soll sich auf 28 Tage erhöhen.

Immer wieder Druck auf die Kostenträg­er.

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Foto: Frank Molter/dpa Spaß im Pflegeberu­f trotz Corona. Fachkräfte werden vielerorts gesucht. Die Frage ist, ob ein Branchen-tarifvertr­ag die Lage verbessert.

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