Schwieriger Weg zum Frieden
Islamisten von Boko Haram terrorisieren das westafrikanische Land und schüren den Hass zwischen Christen und Muslimen. Mutige Frauen um die Ordensschwester Agatha Chikelue halten dagegen. Sie versuchen zu vermitteln.
Ach, wenn es nur Corona wäre…“Das Virus, das weite Teile der Welt in Atem hält, zählt für Agatha Chikelue zu den kleineren Problemen. Nicht nur, weil die Zahlen mit knapp 66 000 Fällen in Nigeria vergleichsweise überschaubar sind. „Natürlich hat die Pandemie die Lage in unserem Land noch einmal zugespitzt.“Doch das, was das mit rund 200 Millionen Bürgern größte Land Afrikas wirklich quält, sitzt tiefer: Der Terror der islamistischen Fanatiker von Boko Haram, die vor wenigen Tagen erneut Dörfer überfallen und dutzende Menschen ermordet haben, die bodenlose Misswirtschaft und Korruption sowie die Unfähigkeit der Politik, Konflikte friedlich zu lösen.
Seit Wochen brodelt es in Städten wie Abuja und Lagos. Trotz Ausgangssperre ziehen immer wieder tausende junge Menschen durch die Straßen. Mit Sprechchören und Schildern fordern sie das Ende von „SARS“. In Nigeria stehen die vier Buchstaben aber nicht für ein Virus, sondern für die „Special Anti-robbery Squad“, eine Spezialeinheit der Streitkräfte, die wie eine Räuberbande agiert. In den sozialen Netzwerken werden Videos geteilt, die die Gewalt dieser Einheit dokumentieren. Mitglieder werden gezeigt, die auf den Fahrer eines Luxuswagens schießen, um sich den SUV anzueignen. Den verletzten Fahrer lassen sie im Straßengraben zurück. Von organisierten Festnahmen wird berichtet. Sie sollen dazu dienen, an Laptops oder Wertgegenstände des Verhafteten zu gelangen. Auch wenn die Spezialeinheit inzwischen aufgelöst ist, gehen die Proteste weiter. Zu groß ist der Frust vieler Nigerianer, dass das ölreiche Land Geld nur in die Taschen weniger Reicher spült, dass Natur und Umwelt gnadenlos ausgebeutet werden und selbst gut ausgebildete junge Menschen keine Chance auf Einkommen und Zukunft haben.
Und Präsident Muhammadu Buhari? Er schickt Bewaffnete auf die Straße, um mit Gewalt die weitgehend friedlichen Proteste zu ersticken. Immer mehr Tote sind zu beklagen.
Schwester Agatha Chikelue treibt die Unfähigkeit der Politik auf die Palme. Anstatt sich den realen Problemen zu stellen, werde versucht, den berechtigten Protest der Bevölkerung religiös zu missbrauchen. So werde das Gerücht gestreut, bei den Protesten gehe es Christen nur darum, die Regierung des muslimischen Präsidenten zu stürzen. Das heizt die Stimmung an.
Religion ist nicht nur in Nigeria eine explosive Beigabe für Konflikte. Doch da besonders. Der seit vielen Jahren wütende Terror der islamistischen Boko Haram hat Gift zwischen den Christen und Muslimen versprüht, die beide rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Kirchen brennen, Moschee werden geschändet, zu Tausenden werden Menschen vertrieben und niedergemetzelt. Das stärkt Fanatiker auf beiden Seiten. Sie schüren Hass und Misstrauen.
Keine Angst vor Islamisten
Auch Agatha Chikelue, die im Osten Nigerias mit fünf Geschwistern aufgewachsen ist, kennt Gewalt und Spannungen. Sie sei eine „Konvertitin“, sagte sie vor einem Jahr beim Welttreffen der „Religionen für Frieden“in Lindau der „Zeit“: Übergetreten vom Zorn zur Versöhnung, vom Misstrauen zum Vertrauen, vom Religionshass zum Religionsfrieden. In diesem Jahr war sie wie hunderte Frauen aus 90 Ländern digital zugeschaltet zum Weltbund „Religions for Peace“, der seinen Fokus auf den spezifischen Blick von Frauen auf politische Führung und Führungsverantwortung legte. Zwar sind fast alle Weltreligionen männerdominiert, die Gemeinden aber leben vom Einsatz der Frauen.
Sie wolle von den Erfahrungen der anderen Friedensstifterinnen lernen, sagt die unerschrockene Ordensfrau, die mit ihren gut 1,90 Metern
Größe viele ihrer Gesprächspartner überragt. Die 47-Jährige, die die „Cardinal-onaiyekan-foundation for Peace“in der Hauptstadt Abuja leitet und Co-vorsitzende des „Women of Faith Network“ist, einem Zusammenschluss nigerianischer Frauen mit unterschiedlichem kulturellem und religiösem Hintergrund, setzt auf Religion als Instrument für Frieden. Nur wenn es gelinge, Frieden und Dialog unter den Religionen zu schaffen, sei Frieden im Land möglich. Angst vor Islamisten hat die Schwester nicht. Von Vorbehalten auch auf christlicher Seite lässt sie sich nicht bremsen.
Als sie 2010, in der Hochphase von Boko Haram, mit der Friedensarbeit begonnen habe, sagt Agatha Chikelue im Gespräch mit unserer Zeitung, seien Begegnungen zwischen Christen und Muslimen extrem schwierig gewesen: Ihre christlichen Kollegen hätten Angst gehabt, eine Moschee zu betreten, muslimische Frauen fürchteten sich vor einem Treffen in einer Kirche. Das ist Vergangenheit. „Heute gelingt es unserem Netzwerk aus muslimischen und christlichen Frauen mit einer Stimme zu sprechen.“
Auch im aktuellen Konflikt. Gemeinsam sind die Frauen auf die Regierung und auf die Demonstranten zugegangen. Sie wollten Wege ausloten für einen Dialog. „Unser Ziel ist, dass die jungen Menschen ihre Beschwerden gegenüber der Regierung vorbringen können. Dafür müssen die Jugendlichen im Gegenzug die Regierung respektieren.“
Die Stimme religiöser Führer hat in Nigeria Gewicht. Sie kann Zwietracht säen oder zur Verständigung rufen. „Ich sage nicht, dass Gewalt nicht auch von Religionen ausgehen kann“, sagt Agatha Chikelue. Das passiere dann, wenn „die Werte der Religion missbraucht werden.“
Die Katholikin, die zum nigerianischen Orden „Töchter Mariens, Mutter der Barmherzigkeit“gehört, hat sich von Kardinal John Onaiyekan inspirieren lassen. Der Kirchenmann gilt nicht nur unter Christen als hartnäckiger Vermittler in schwierigen Konflikten. Seine Überzeugung: „Wenn es uns nicht gelingt zum Dialog zu kommen, enden wir im Krieg.“Das ist ihr zum Auftrag geworden. Nach ihrem Studium an der Universität Abuja, wo sie öffentliche Verwaltung lernt, arbeitet die Schwester in der Diözese und baut Brücken zur Politik und zivilgesellschaftlichen Gruppe in Nigeria.
Doch ist der Glaube an die Kraft des Dialogs nicht naiv? Agatha Chikelue
widerspricht energisch. „Was hat die Regierung mit ihrem Militär in all den Jahren gegen Boko Haram ausgerichtet?“, fragt sie mit ihrer dunklen Stimme. Einzelne Bäume habe der Militärapparat gekappt. Geblieben seien die Wurzeln der Probleme. Und damit auch die Terrororganisation
Boko Haram.
Dialog heiße nicht, brav alles zu akzeptieren, was der andere von sich gibt, betont Agatha Chikelue. Dialog bedeute, unterschiedliche Meinung aushalten und dort zusammenzuarbeiten, wo es einen gemeinsamen Boden gibt. Dieses gemeinsame Fundament sieht Agatha Chikelue im Glauben und in der Friedensbotschaft, die Religionen inne sei. „Wir sind nicht dazu da, um uns gegenseitig zu missionieren, sondern um an unseren gemeinsamen Werten zu arbeiten.“
Und so wirbt die Nigerianerin um Frauen aus allen religiösen Gemeinschaften. Frauen besäßen die Gabe zuzuhören und zu verstehen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Der tägliche Kampf ums Überleben der Familie mache Frauen stark und widerstandsfähig. „Frauen geben nicht so schnell auf “, sagt die Ordensfrau. „Und sie haben Prioritäten, die nicht am eigenen Wohlergehen ausgerichtet sind.“
Ihr Netzwerk schult in Dialog und Konfliktmanagement, bietet Stipendienprogramme für Frauen und Männer, bildet Ordensfrauen in interreligiösem Dialog aus und bringt Jugendliche beider Religionen zusammen. Seit dem Lockdown ist auch der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt drängender geworden. Nigeria wird seit der Ausgangssperre von einer Welle der Gewalt gegen Frauen erschüttert. Brutale Vergewaltigungen machten international Schlagzeilen. Ohne das Zusammenwirken aller, die Autorität und Stimme haben, ist diesen Auswüchsen nicht beizukommen.
Ihren eigenen Kompass verliert Schwester Agatha nicht. So ist auf jedem ihrer Mails in grüner Farbe festgehalten: „Whatever Hate can do; Love can do it better.“Was immer mit Hass erreicht werden kann; die Liebe vermag mehr.
Wir sind nicht dazu da, uns gegenseitig zu missionieren, sondern um an gemeinsamen Werten zu arbeiten.
Agatha Chikelue
Ordensschwester in Nigeria