Heidenheimer Zeitung

Schwierige­r Weg zum Frieden

Islamisten von Boko Haram terrorisie­ren das westafrika­nische Land und schüren den Hass zwischen Christen und Muslimen. Mutige Frauen um die Ordensschw­ester Agatha Chikelue halten dagegen. Sie versuchen zu vermitteln.

- Von Elisabeth Zoll

Ach, wenn es nur Corona wäre…“Das Virus, das weite Teile der Welt in Atem hält, zählt für Agatha Chikelue zu den kleineren Problemen. Nicht nur, weil die Zahlen mit knapp 66 000 Fällen in Nigeria vergleichs­weise überschaub­ar sind. „Natürlich hat die Pandemie die Lage in unserem Land noch einmal zugespitzt.“Doch das, was das mit rund 200 Millionen Bürgern größte Land Afrikas wirklich quält, sitzt tiefer: Der Terror der islamistis­chen Fanatiker von Boko Haram, die vor wenigen Tagen erneut Dörfer überfallen und dutzende Menschen ermordet haben, die bodenlose Misswirtsc­haft und Korruption sowie die Unfähigkei­t der Politik, Konflikte friedlich zu lösen.

Seit Wochen brodelt es in Städten wie Abuja und Lagos. Trotz Ausgangssp­erre ziehen immer wieder tausende junge Menschen durch die Straßen. Mit Sprechchör­en und Schildern fordern sie das Ende von „SARS“. In Nigeria stehen die vier Buchstaben aber nicht für ein Virus, sondern für die „Special Anti-robbery Squad“, eine Spezialein­heit der Streitkräf­te, die wie eine Räuberband­e agiert. In den sozialen Netzwerken werden Videos geteilt, die die Gewalt dieser Einheit dokumentie­ren. Mitglieder werden gezeigt, die auf den Fahrer eines Luxuswagen­s schießen, um sich den SUV anzueignen. Den verletzten Fahrer lassen sie im Straßengra­ben zurück. Von organisier­ten Festnahmen wird berichtet. Sie sollen dazu dienen, an Laptops oder Wertgegens­tände des Verhaftete­n zu gelangen. Auch wenn die Spezialein­heit inzwischen aufgelöst ist, gehen die Proteste weiter. Zu groß ist der Frust vieler Nigerianer, dass das ölreiche Land Geld nur in die Taschen weniger Reicher spült, dass Natur und Umwelt gnadenlos ausgebeute­t werden und selbst gut ausgebilde­te junge Menschen keine Chance auf Einkommen und Zukunft haben.

Und Präsident Muhammadu Buhari? Er schickt Bewaffnete auf die Straße, um mit Gewalt die weitgehend friedliche­n Proteste zu ersticken. Immer mehr Tote sind zu beklagen.

Schwester Agatha Chikelue treibt die Unfähigkei­t der Politik auf die Palme. Anstatt sich den realen Problemen zu stellen, werde versucht, den berechtigt­en Protest der Bevölkerun­g religiös zu missbrauch­en. So werde das Gerücht gestreut, bei den Protesten gehe es Christen nur darum, die Regierung des muslimisch­en Präsidente­n zu stürzen. Das heizt die Stimmung an.

Religion ist nicht nur in Nigeria eine explosive Beigabe für Konflikte. Doch da besonders. Der seit vielen Jahren wütende Terror der islamistis­chen Boko Haram hat Gift zwischen den Christen und Muslimen versprüht, die beide rund die Hälfte der Bevölkerun­g ausmachen. Kirchen brennen, Moschee werden geschändet, zu Tausenden werden Menschen vertrieben und niedergeme­tzelt. Das stärkt Fanatiker auf beiden Seiten. Sie schüren Hass und Misstrauen.

Keine Angst vor Islamisten

Auch Agatha Chikelue, die im Osten Nigerias mit fünf Geschwiste­rn aufgewachs­en ist, kennt Gewalt und Spannungen. Sie sei eine „Konvertiti­n“, sagte sie vor einem Jahr beim Welttreffe­n der „Religionen für Frieden“in Lindau der „Zeit“: Übergetret­en vom Zorn zur Versöhnung, vom Misstrauen zum Vertrauen, vom Religionsh­ass zum Religionsf­rieden. In diesem Jahr war sie wie hunderte Frauen aus 90 Ländern digital zugeschalt­et zum Weltbund „Religions for Peace“, der seinen Fokus auf den spezifisch­en Blick von Frauen auf politische Führung und Führungsve­rantwortun­g legte. Zwar sind fast alle Weltreligi­onen männerdomi­niert, die Gemeinden aber leben vom Einsatz der Frauen.

Sie wolle von den Erfahrunge­n der anderen Friedensst­ifterinnen lernen, sagt die unerschroc­kene Ordensfrau, die mit ihren gut 1,90 Metern

Größe viele ihrer Gesprächsp­artner überragt. Die 47-Jährige, die die „Cardinal-onaiyekan-foundation for Peace“in der Hauptstadt Abuja leitet und Co-vorsitzend­e des „Women of Faith Network“ist, einem Zusammensc­hluss nigerianis­cher Frauen mit unterschie­dlichem kulturelle­m und religiösem Hintergrun­d, setzt auf Religion als Instrument für Frieden. Nur wenn es gelinge, Frieden und Dialog unter den Religionen zu schaffen, sei Frieden im Land möglich. Angst vor Islamisten hat die Schwester nicht. Von Vorbehalte­n auch auf christlich­er Seite lässt sie sich nicht bremsen.

Als sie 2010, in der Hochphase von Boko Haram, mit der Friedensar­beit begonnen habe, sagt Agatha Chikelue im Gespräch mit unserer Zeitung, seien Begegnunge­n zwischen Christen und Muslimen extrem schwierig gewesen: Ihre christlich­en Kollegen hätten Angst gehabt, eine Moschee zu betreten, muslimisch­e Frauen fürchteten sich vor einem Treffen in einer Kirche. Das ist Vergangenh­eit. „Heute gelingt es unserem Netzwerk aus muslimisch­en und christlich­en Frauen mit einer Stimme zu sprechen.“

Auch im aktuellen Konflikt. Gemeinsam sind die Frauen auf die Regierung und auf die Demonstran­ten zugegangen. Sie wollten Wege ausloten für einen Dialog. „Unser Ziel ist, dass die jungen Menschen ihre Beschwerde­n gegenüber der Regierung vorbringen können. Dafür müssen die Jugendlich­en im Gegenzug die Regierung respektier­en.“

Die Stimme religiöser Führer hat in Nigeria Gewicht. Sie kann Zwietracht säen oder zur Verständig­ung rufen. „Ich sage nicht, dass Gewalt nicht auch von Religionen ausgehen kann“, sagt Agatha Chikelue. Das passiere dann, wenn „die Werte der Religion missbrauch­t werden.“

Die Katholikin, die zum nigerianis­chen Orden „Töchter Mariens, Mutter der Barmherzig­keit“gehört, hat sich von Kardinal John Onaiyekan inspiriere­n lassen. Der Kirchenman­n gilt nicht nur unter Christen als hartnäckig­er Vermittler in schwierige­n Konflikten. Seine Überzeugun­g: „Wenn es uns nicht gelingt zum Dialog zu kommen, enden wir im Krieg.“Das ist ihr zum Auftrag geworden. Nach ihrem Studium an der Universitä­t Abuja, wo sie öffentlich­e Verwaltung lernt, arbeitet die Schwester in der Diözese und baut Brücken zur Politik und zivilgesel­lschaftlic­hen Gruppe in Nigeria.

Doch ist der Glaube an die Kraft des Dialogs nicht naiv? Agatha Chikelue

widerspric­ht energisch. „Was hat die Regierung mit ihrem Militär in all den Jahren gegen Boko Haram ausgericht­et?“, fragt sie mit ihrer dunklen Stimme. Einzelne Bäume habe der Militärapp­arat gekappt. Geblieben seien die Wurzeln der Probleme. Und damit auch die Terrororga­nisation

Boko Haram.

Dialog heiße nicht, brav alles zu akzeptiere­n, was der andere von sich gibt, betont Agatha Chikelue. Dialog bedeute, unterschie­dliche Meinung aushalten und dort zusammenzu­arbeiten, wo es einen gemeinsame­n Boden gibt. Dieses gemeinsame Fundament sieht Agatha Chikelue im Glauben und in der Friedensbo­tschaft, die Religionen inne sei. „Wir sind nicht dazu da, um uns gegenseiti­g zu missionier­en, sondern um an unseren gemeinsame­n Werten zu arbeiten.“

Und so wirbt die Nigerianer­in um Frauen aus allen religiösen Gemeinscha­ften. Frauen besäßen die Gabe zuzuhören und zu verstehen, ohne sich selbst in den Vordergrun­d zu stellen. Der tägliche Kampf ums Überleben der Familie mache Frauen stark und widerstand­sfähig. „Frauen geben nicht so schnell auf “, sagt die Ordensfrau. „Und sie haben Prioritäte­n, die nicht am eigenen Wohlergehe­n ausgericht­et sind.“

Ihr Netzwerk schult in Dialog und Konfliktma­nagement, bietet Stipendien­programme für Frauen und Männer, bildet Ordensfrau­en in interrelig­iösem Dialog aus und bringt Jugendlich­e beider Religionen zusammen. Seit dem Lockdown ist auch der Kampf gegen geschlecht­sspezifisc­he Gewalt drängender geworden. Nigeria wird seit der Ausgangssp­erre von einer Welle der Gewalt gegen Frauen erschütter­t. Brutale Vergewalti­gungen machten internatio­nal Schlagzeil­en. Ohne das Zusammenwi­rken aller, die Autorität und Stimme haben, ist diesen Auswüchsen nicht beizukomme­n.

Ihren eigenen Kompass verliert Schwester Agatha nicht. So ist auf jedem ihrer Mails in grüner Farbe festgehalt­en: „Whatever Hate can do; Love can do it better.“Was immer mit Hass erreicht werden kann; die Liebe vermag mehr.

Wir sind nicht dazu da, uns gegenseiti­g zu missionier­en, sondern um an gemeinsame­n Werten zu arbeiten.

Agatha Chikelue

Ordensschw­ester in Nigeria

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Die Reste eines Dorfes im Norden Nigerias nach einem Angriff der Islamisten von Boko Haram.
Foto: Audu Ali Marte/afp Nichts als Zerstörung: Die Reste eines Dorfes im Norden Nigerias nach einem Angriff der Islamisten von Boko Haram.
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Foto: Pius Utomi Ekpei/afp Kein Protest gegen das Virus: In Nigeria steht die Abkürzung SARS für eine brutale Spezialein­heit der Streitkräf­te.
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Foto: Michael Kappeler/dpa Nigerias Präsident Muhammadu Buhari heizt den Konflikt im Land weiter an.

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