Nicht allein vor Gericht
Maria H. war 13 Jahre alt, als sie von einem 40 Jahre älteren Mann sexuell missbraucht wurde . Vor Gericht muss sie als Zeugin aussagen und wird dabei professionell unterstützt.
Du hast ihn doch bis vor kurzem jeden Tag gesehen. Fünf Jahre lang. Und jetzt wirst du ihn halt wiedersehen – nur eben vor Gericht. Es wird sein wie immer. Mit diesen Gedanken versuchte sich Maria H. zu beruhigen, kurz bevor sie wieder auf jenen Mann traf, der sie im Alter von 13 Jahren von ihrer Familie weglockte, mit ihr in den Untergrund flüchtete und sie mehrfach sexuell missbrauchte.
Jahrelang hatte von dem 40 Jahre älteren Bernhard H. aus der Nähe von Paderborn und der Minderjährigen aus Freiburg jede Spur gefehlt. Kriminalpolizei und Interpol fahndeten in ganz Europa nach ihnen.
Dann, in einer Augustnacht vor zwei Jahren, steht Maria plötzlich vor der Tür ihrer Mutter. Fünf Jahre war sie verschwunden. Die italienische Polizei nimmt Bernhard H. wenige Tage später auf Sizilien fest.
Maria denkt, sie sei gewappnet. Doch am Tag des Prozessauftakts kommt alles anders. Als Bernhard H. in Handschellen den Gerichtssaal betritt, zieht es ihrden Boden unter den Füßen weg.
Doch Maria ist nicht allein. Eine Frau steht ihr zur Seite: Susanne Strigel. Sie hat rotbraune Haare, blaue Augen und strahlt eine ruhige Zuversicht aus. Sie arbeitet als Psychosoziale Prozessbegleiterin für die Beratungsstelle „Wildwasser“.
Nicht nochmal Opfer sein
Drei Monate später. Die Septembersonne strahlt durch das Fenster ins Beratungszimmer. Auf dem Sofa sitzt Maria. Auf dem Schreibtischstuhl gegenüber Strigel. „Unser Ziel ist, unsere Zeuginnen im Strafverfahren zu entlasten“, sagt sie. Die Betroffenen sollen nicht zum zweiten Mal Opfer werden. So steht es auch im eigenständigen Gesetz über die psychosoziale Prozessbegleitung.
Maria sagt: „Ohne Frau Strigel hätte ich es nicht geschafft.“Als Prozessbegleiterin bereitet sie Opfer sexueller Gewalt auf den Gerichtsprozess vor. Oft sitzen auch Kinder und Jugendliche vor ihr. Sie erklärt ihnen den Ablauf des Strafverfahrens, begleitet zu den Vernehmungen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht und klärt sie über ihre Pflichten und Rechte auf.
Traditionell drehten sich Prozesse in Deutschland um die Angeklagten und deren Taten. Opfer interessierten nur dann, wenn sie als Zeugen aussagten.
Das hat sich am 1. Januar 2017 nachhaltig geändert. Seit diesem Tag dürfen Minderjährige und besonders schutzbedürftige erwachsene Opfer von schweren Sexual- und Gewaltstraftaten kostenlos psychosoziale Prozessbegleitung in Anspruch nehmen.
Im Fall Marias hat das Gericht Strigel als Prozessbegleiterin beigeordnet. Sie ahnt früh, welche Wucht die Begegnung mit Bernhard H. , dem Täter, vor Gericht entfalten wird.
Maria unterschätzt es. Die junge Frau entscheidet, die gesamte
Hauptverhandlung über anwesend zu sein. „Ich habe mir mehr zugetraut, als alle für gut hielten“, sagt Maria. Sie will wissen, wie Bernhard H. ihr Leben im Untergrund und den sexuellen Missbrauch darstellt.
Bernhard H. sagt aus, beschönigt, verharmlost und verteidigt sich. Maria: „Ich habe nicht geglaubt,
Psychosoziale Prozessbegleiterin
dass es so schlimm werden würde, ihm zuzuhören.“
In der Hauptverhandlung klebt auf dem Aktenordner, mit dem er sein Gesicht vor den Kameras schützt, zu Beginn des Prozesses ein Bild, auf dem zwei Hände ein Herz bilden. Im Laufe der Verhandlung tauscht er es aus gegen
Die Prozessbegleiterin Susanne Strigel. ein Bild, das mit Tränen bemalt ist.
Strigel hat schon oft erlebt, wie Täter versuchen, die Betroffenen bis in den Gerichtssaal zu beeinflussen und zu manipulieren. „Oft fühlen sich die Jugendlichen verantwortlich dafür, dass die ehemalige Vertrauensperson eine Strafe kriegt.“Diese Schwachstelle nutzen die Täter oft aus.
Das zweite Treffen mit Maria, ein Jahr später im September, auf einer Bank im Freiburger Stadtteil Wiehre. 14 Monate liegt das Urteil zurück. „Es ist ihm gelungen, mir einzureden, dass ich schuld bin an der ganzen Situation“, sagt sie. Ihn vor Gericht zu erleben, habe ihre Sicht auf ihn verändert. „Mir klarzumachen, dass das alles nur ’ne Show war...“
Strigel erlebt regelmäßig, dass die Kinder und Jugendlichen mit Schuldgefühlen kämpfen: Warum habe ich nicht früher gemerkt, was passiert? Warum habe ich so einem Menschen vertraut?
Strigel stärkt die Kinder und Jugendlichen vor dem Prozess, indem sie ihnen Raum gibt für ihre Gefühle. Sie sagt, Kinder stellten sich oft die Frage: Ist es überhaupt schlimm genug, was ich erlebt habe? Diese Zweifel vor der Aussage könnten viele Außenstehende nicht nachvollziehen.
Szene mit Playmobil-figuren
Was es heißt, vor Gericht Schläge, Würgeversuche oder die eigene Vergewaltigung zu schildern, lässt sich nur erahnen. Zudem hat die Aussage ganz unmittelbare Folgen für das Leben der Jugendlichen. Oft diktiert sie die künftigen Lebensbedingungen.
Manche Kinder verlieren ihr familiäres Umfeld durch die Aussage, weil der Täter der Vater ist und die Mutter Mitwisserin war. Manche müssen damit rechnen, dass der Täter bald in die Familie zurückkehrt und sie damit leben müssen, gegen ihn ausgesagt zu haben.
Oft manipulieren Täter die Kinder in der Hoffnung, die Aussage zu verhindern oder sie weniger belastend ausfallen zu lassen. „Diese Kinder sind es leider oft gewohnt, dass andere über ihre Köpfe hinweg entscheiden und ihre Bedürfnisse ignorieren“, sagt Strigel. Deshalb bietet sie ihnen praktische Hilfe an, indem sie ihnen ihre Rolle vor Gericht erklärt.
Um das zu verdeutlichen, spielt sie schon die Situation vor Gericht auch mal mit Playmobil nach. In ihrem Büro steht ein kleiner improvisierter Gerichtssaal in der Größe eines Puppenhauses. Hier gibt es Mini-staatsanwältinnen, Richter, Nebenklagevertreter – die alle so positioniert sind, wie später vor Gericht.
Wenn es möglich ist, besucht sie mit den Jugendlichen davor den Gerichtssaal, in dem es wahrscheinlich zur Hauptverhandlung kommt. Zudem erklärt sie Fachjargon.
Maria fühlt sich vorbereitet, als der Tag X sich nähert. Aber sie unterschätzt die Heftigkeit ihrer Gefühle. Sie spricht immer schneller, atmet immer weniger. „Und dann bin ich einfach nicht mehr aus der Situation rausgekommen“, sagt sie. Gerade in solchen Momenten brauchen die Zeugen die Prozessbegleiter am meisten.
Im Juli 2019 verurteilt das Landgericht Freiburg Bernhard H. zu sechs Jahren Haft wegen Kindesentziehung und sexuellen Missbrauchs in 108 Fällen. „Die Anerkennung der Gesellschaft zu haben, dass er der Schuldige ist und nicht ich . . , das hat mir viel bedeutet“, sagt Maria.
H. sitzt jetzt in Offenburg im Gefängnis. 60 Kilometer entfernt. „Ich hoffe nicht, dass er nach seiner Haftstrafe wieder mit mir Kontakt aufnimmt“, sagt Maria. Aber falls er es doch versuchen sollte, weiß sie, an wen sie sich wenden wird: Frau Strigel.
Unser Ziel ist, unsere Zeuginnen im Strafverfahren zu entlasten.
Susanne Strigel