Der Tod war überall
Jörg Böckem hat die Drogensucht überwunden und wieder die Regie in seinem Leben übernommen. Was ihm früher gefehlt hat? Gespräche und Hilfe auf Augenhöhe.
Sargträger bei der Beerdigung eines meiner besten Freunde. Er war gestorben, nachdem er verunreinigtes Heroin gedrückt hatte. Ich hatte keinen Job mehr, schlief bei einem Bekannten auf einer vollgepissten Matratze, aß trockenes Toastbrot.
Ich bin Lastwagen gefahren für eine Spedition
Welchen Job hatten Sie vorher?
und hatte immer aufgezogene Spritzen in meinem Handschuhfach. Ich wusste: Alle sechs Stunden muss ich mir einen Druck setzen, sonst halte ich die Tour nicht durch. Ich bin regelmäßig hinterm Steuer eingepennt, hatte einmal einen schweren Unfall.
Wenn Sie heute Ihr Ich von damals beobachten
Dieser junge Mann ist immer noch ein Teil von mir,
könnten: Würden Sie es bremsen?
ich kann ihn gut verstehen. Glücklicherweise sitzt er nicht mehr am Steuer und entscheidet darüber, was ich tue. Aber er ist mir total nah. Was ich mir damals gewünscht hätte: echten Kontakt auf Augenhöhe. Dass mich jemand fragt, warum ich das mache, wie sich das anfühlt. Erst wenn man sich ernst genommen fühlt, jemand zuhört, ist man bereit, positive Hinweise anzunehmen.
Mir haben alle immer nur erklärt: Was Du machst,
Solche Gespräche gab es nie?
ist dumm. Du bringst Dich um. Wir sind groß, wissen Bescheid. Mach einfach, was wir sagen. Über Wege, wie man innerhalb der Sucht gegensteuern, bessere Entscheidungen treffen kann, wurde nicht gesprochen.
Fühlt sich Ihr jetziges Leben weniger intensiv
Diesen Endorphin-hunger habe ich nicht mehr. Das
gelebt an?
hat sicher auch damit zu tun, dass ich das bis zum Exzess ausgekostet habe. Was nach den unglaublichen ersten Drogen erfahrungen kam, war fade, belastend und selbstzerstörerisch. Heute habe ich zwei Kinder, bin Freiberufler, ich muss mir meine Kraft einteilen. Heute ist es ein angenehmerer Zustand, wenn auch weniger rauschhaft.
Die Gefahr sollte man nicht unterschätzen. Sie
Kann jeder drogensüchtig werden?
hängt auch davon ab: Wie stark nimmt jemand etwa Trauer, Angst, Einsamkeit wahr, und welche Kompetenzen hat sie oder er, um solche Belastungen zu bewältigen? Je größer die Verletzlichkeit eines Menschen ist, desto stärkere Kompetenzen braucht er, um das auszugleichen. Deshalb sollte man in der Prävention Menschen Kompetenzen mitgeben, anhand derer sie Konsum-entscheidungen verantwortungsbewusst und wissensbasiert treffen können.
Haben Sie den Eindruck, dass im Alltag der Konsum von Alkohol und Nikotin bagatellisiert
Ja, dabei sind diese Substanzen nicht harmlos.
wird?
Gleichzeitig dämonisieren wir illegale Substanzen. So drängen wir Menschen, die sie konsumieren, in die Kriminalität. Natürlich gibt es Substanzen, die ein hohes Risikospektrum haben, Heroin zum Beispiel. Für Nikotin gilt das aber auch, nur dass die Schäden weniger direkt sind. Bis heute aber haben wir kein Werbeverbot für Zigaretten.
Vor 20 Jahren haben Sie die Kurve gekriegt. Wie ist es Ihnen gelungen, die Sucht hinter sich zu
Ich habe dreimal eine stationäre Therapie gemacht.
lassen?
Beim ersten Mal, weil ich merkte: Ich will nicht sterben. Die anderen Male: Weil ich wieder Regisseur meines Lebens sein und wieder Freude, Begeisterung und Trauer spüren wollte. Auf Heroin ist das alles weg, man ist in Watte gepackt, nichts tut mehr weh. Sich aus einer Sucht herauszuarbeiten heißt, auf neue Weise mit sich und der Welt umgehen lernen. Manchmal macht man einen Schritt zurück und wieder einen vorwärts. Heute lebe ich nicht abstinent, aber suchtfrei.
geb. 1966, berichtet in seinen Büchern von seinem Doppelleben als Journalist und
Jörg Böckem,
Heroinabhängiger sowie seinem Weg aus der Sucht. Er engagiert sich in der Suchtprävention und ist Mitglied bei „akzept e.v.“, dem Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik.