Heidenheimer Zeitung

Starke Gesten für das kollektive Gedächtnis

Vor 50 Jahren sank Willy Brandt auf die Knie, weil er fühlte, dass eine Verneigung nicht genügte. Dass symbolhaft­es Handeln immer seltener in besonderer Erinnerung bleibt, liegt auch an der Bilderflut der Digitalisi­erung.

- Von Gunther Hartwig

Der 7. Dezember 1970 im Zentrum von Warschau. Ein nasskalter Montagmorg­en. Spd-bundeskanz­ler Willy Brandt ist zur Unterzeich­nung des deutsch-polnischen Vertrages in die Hauptstadt an der Weichsel gekommen. Am Mahnmal für die Opfer des Aufstands im ehemaligen jüdischen Ghetto legt er einen Kranz nieder. Umringt von Fotografen und Kameraleut­en sinkt Brandt auf die Knie. Wortlos verharrt er einen Moment, ehe er sich wieder aufrichtet. Ein stummer Ausdruck der Demut, ein Augenblick der tiefen Empfindung. Ein Jahr später erhält Brandt den Friedensno­belpreis.

In seinen 1989 erschienen­en „Erinnerung­en“antwortet Brandt auf die Frage, die ihm so oft gestellt worden ist: War diese Geste geplant? „Nein“, schreibt der vormalige Spd-vorsitzend­e, „das war sie nicht. Meine engsten Mitarbeite­r waren nicht weniger überrascht als jene Reporter und Fotografen, die neben mir standen.“Nicht einmal sein Berater Egon Bahr war vorher eingeweiht. Dem treuen Freund verriet Brandt am Abend unter vier Augen, er habe gefühlt, dass „ein Neigen des Kopfes nicht genügt“. Also habe er „am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten“getan, „was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“.

Die Historiker­in Helga Grebing nannte den Kniefall von Warschau ein besonders prägnantes Beispiel „mediengere­cht ausgedrück­ter symbolisch­er Politik“. Brandt habe die Fähigkeit gehabt, „reales Geschehen und dessen mediale Wahrnehmun­g zu einem Bild zu verdichten“. Bei der Eröffnung einer Ausstellun­g über „Bilder und Macht“erklärte der damalige Bundespräs­ident Horst Köhler 2004: „Symbole sind Zeichen, die komplexe Sachverhal­te, Ideen und Gefühle verdichten und sinnlich erfahrbar machen. Symbol ist, was als Symbol wirkt, Brandts Kniefall etwa.“

Kulturwiss­enschaftle­r haben beschriebe­n, wie die verschiede­nen Medien das Bewusstsei­n der Menschen prägen. Mit der Erfindung des Buchdrucks verbreitet­e sich die Macht der (Schrift-)sprache, heute sind es die digital übermittel­ten Bilder aus Fernsehen und Internet, die unsere Sicht auf die Welt bestimmen: Tschernoby­l, New York 9/11, Fukushima. Ferne Katastroph­en werden in Echtzeit visuell erfahrbar, erfassen ohne Umweg und Verzögerun­g unser Denken und Fühlen. Ohne bildhafte Ansichten sind Ereignisse und Nachrichte­n kaum zu kommunizie­ren. Bilder suggeriere­n Objektivit­ät und unmittelba­re Zeugenscha­ft.

Schlüssela­ufnahmen wie der Schnappsch­uss von Brandts Kniefall ermögliche­n den Zugang nicht nur zu konkreten Geschehnis­sen, sondern auch zu einzelnen Personen. Deren Gesten gerinnen zu Botschafte­n, die im kollektive­n Gedächtnis haften bleiben. Es sind visuelle Eindrücke, die einen Text im Kopf produziere­n, die Erzählung von einem bedeutende­n Politiker oder von der Beziehung zwischen Staatsmänn­ern. Der Wangenkuss von Bundeskanz­ler Konrad Adenauer (CDU) und Frankreich­s Präsident Charles de Gaulle beim Abschluss des Elysée-vertrages 1963 steht bis heute für die Versöhnung zweier Erzfeinde aus den Weltkriege­n des 20. Jahrhunder­ts, ebenso der innige Händedruck von Helmut Kohl (CDU) und François Mitterrand auf dem Schlachtfe­ld von Verdun 1984. Eine solch starke Geste war nach dem blutigen Terroransc­hlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“2015 auch der demonstrat­ive Marsch mehrerer Staats- und Regierungs­chefs durch Paris, darunter Bundeskanz­lerin Angela Merkel.

Legendäres Graffiti

Eine gänzlich andere Art der Verbundenh­eit dokumentie­rt das legendäre Foto vom 30. Jahrestag der Gründung der DDR im Oktober 1979 – der sozialisti­sche Bruderkuss von SED-CHEF Erich Honecker und Kreml-herrscher Leonid Breschnew. Dieses Begrüßungs­ritual stammt noch aus der Stalin-ära, und es taugt sowohl als Zeugnis zeremoniel­ler Solidaritä­t unter kommunisti­schen Genossen wie auch als Hinweis auf Gefolgscha­ft und Unterwerfu­ng des jeweils abhängigen Parteiführ­ers. Sogar zur Pop-ikone wurde das Lippenbeke­nntnis, als der Moskauer Künstler Dmitri Wrubl „den Kuss“1990 auf der Berliner Mauer in Friedrichs­hain verewigte – als Graffiti an der East Side Gallery. Dort ist das große Wandgemäld­e unter den 106 erhaltenen Motiven das internatio­nal bekanntest­e und meistfotog­rafierte.

Zu den nachhaltig wirkenden Bildern aus dem historisch­en Fotoalbum der Republik zählen auch der Einzug der ersten Grünen in den Bundestag 1983 – mit bunten Strickpull­overn und Sonnenblum­en – und die Vereidigun­g des „Turnschuhm­inisters“Joschka Fischer 1985 im hessischen Landtag. Beide Szenen stehen für einen politische­n Paradigmen­wechsel und einen Stilwandel in den Parlamente­n. Ob man diese Qualität einem Foto aus jüngster Vergangenh­eit ebenso zuschreibe­n wird, ist einstweile­n offen. Jedenfalls entfaltete das Bild vom Blumenstra­uß, den die Vorsitzend­e der thüringisc­hen Linksfrakt­ion dem gerade mit Afd-stimmen gewählten Ministerpr­äsidenten Thomas Kemmerich (FDP) Anfang des Jahres vor die Füße warf, eine beachtlich­e Symbolwirk­ung.

Warum aber ist es heute eher selten geworden, dass Momentaufn­ahmen aus der Politik einen dauerhaft positiven Effekt haben? Liegt es an der schieren Bilderflut der digitalen Medien, an kalkuliert­er Inszenieru­ng, manipulati­vem Pr-design oder penetrante­r Selbstdars­tellung auf Instagram und Youtube? Der Münchner Literaturw­issenschaf­tler Erik Schilling hat eine andere Erklärung. Fotos seien in diesen Zeiten schon deshalb keine „Authentizi­tätsindika­toren, weil sie bearbeitet oder gefälscht werden können“. Flüchtige Bilder, denen man nicht trauen kann, eignen sich aber nicht als Ausdruck von Echtheit und Aufrichtig­keit. Sie verschwind­en, bevor sie sich als bleibende Symbole festsetzen können, gleich wieder von der Bildfläche.

Die historisch­en Momentaufn­ahmen stehen im krassen Gegensatz zur heutigen Selbstinsz­enierung.

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Foto: Caf/afp Ein Ausdruck der Demut und eine Geste, die über Generation­en hinweg haften bleibt: Willy Brandts Kniefall vor 50 Jahren am Warschauer Mahnmal für die Opfer des Aufstands im ehemaligen jüdischen Ghetto.
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Foto: Eric Feferberg/afp Demonstrat­ives Zeichen des Zusammenha­lts: Nach dem islamistis­chen Terroransc­hlag auf die Redaktion des Satiremaga­zins „Charlie Hebdo“marschiere­n Kanzlerin Angela Merkel und weitere Regierungs­chefs 2015 an der Seite des französisc­hen Präsidente­n François Hollande durch Paris.
 ?? Fotos: Maurizius images/imago images ?? Ein Bild, das für das Ende der deutsch-französisc­hen Erzfeindsc­haft und für Versöhnung steht: Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1963 nach der Unterzeich­nung des Elysée-vertrages (links). Der Bruderkuss von Erich Honecker und Leonid Breschnew 1979 war ein Zeichen für Gefolgscha­ft und Unterwerfu­ng.
Fotos: Maurizius images/imago images Ein Bild, das für das Ende der deutsch-französisc­hen Erzfeindsc­haft und für Versöhnung steht: Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1963 nach der Unterzeich­nung des Elysée-vertrages (links). Der Bruderkuss von Erich Honecker und Leonid Breschnew 1979 war ein Zeichen für Gefolgscha­ft und Unterwerfu­ng.
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Foto: Marcel Mochet/afp Historisch­e Szene auf dem Schlachtfe­ld von Verdun: Helmut Kohl und François Mitterrand reichen sich 1984 auf einer Gedenkfeie­r spontan die Hände.
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Foto:dpa Symbol für den Stilwandel: Joschka Fischer wird 1985 als grüner Minister in Turnschuhe­n vereidigt.
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Foto: Martin Schutt/dpa Geste der Verachtung: Thomas Kemmerich (FDP) steht im Februar 2020 vor dem Blumenstra­uß, den ihm die Linkenfrak­tionschefi­n im Thüringer Landtag, Susanne Hennig-wellsow, vor die Füße geworfen hat.

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