Heidenheimer Zeitung

„Der Umbruch war knallhart“

Die Regierungs­kommission zieht eine gemischte Bilanz über die deutsche Einheit. Im Mittelpunk­t steht aus Sicht von Matthias Platzeck für viele Ostdeutsch­e die 30-jährige Transforma­tionszeit.

- Von André Bochow

Der Blick der Ostdeutsch­en hat sich verändert, hat eine Kommission der Bundesregi­erung herausgefu­nden, die anderthalb Jahre lang „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“untersucht hat. Sie blickten immer weniger auf die DDR zurück als vielmehr auf die Zeit des Umbruchs, erklärt ihr Leiter, der ehemalige Ministerpr­äsident des Landes Brandenbur­g, Matthias Platzeck (SPD).

80 Prozent der Menschen in den nicht mehr so neuen Bundesländ­ern fühlen sich als Ostdeutsch­e. Die Menschen in den alten Bundesländ­ern würden sich auf Nachfrage vermutlich als Westdeutsc­he sehen. Matthias Platzeck:

Natürlich ist es erst einmal überhaupt kein Problem, wenn sich die Ostdeutsch­en mit ihrer Heimatregi­on verbunden fühlen, mit der eigenen Stadt, mit dem eigenen Landkreis, mit dem eigenen Bundesland – oder auch eben mit Ostdeutsch­land insgesamt. Nur wo sich Menschen mit der eigenen Region identifizi­eren, haben sie auch Lust, mit anzupacken. Und das ist ja letztlich die Voraussetz­ung dafür, dass es in einer Region vorangeht. Und Ihrer Vermutung entspreche­n die „Westdeutsc­hen“eben nicht ganz so. Im Osten scheint es doch diesbezügl­ich eine andere, tiefere Verbundenh­eit zu geben.

Im Bericht der Kommission steht, erhebliche Teile der Ostdeutsch­en würden dem „politische­n und gesellscha­ftlichen System der Bundesrepu­blik verdrossen und entfremdet, ja sogar ablehnend gegenüber“stehen. Warum ist das so?

Gemeint ist damit zwar ein relevanter Teil, aber nicht die Mehrheit. Die meisten blicken positiv zurück auf die letzten 30 Jahre und erkennen dabei ganz genau, was hier in Ostdeutsch­land unter extrem schwierige­n Bedingunge­n entstanden ist.

Trotzdem. Verstehen Sie die Wut vieler in Ostdeutsch­land?

Natürlich kann ich das verstehen. Dass die Transforma­tion aufs große Ganze gesehen geglückt ist, bedeutet ja noch lange nicht, dass es bei jedem und jeder Einzelnen so war und ist. Der Umbruch war für die meisten Menschen knallhart und auch heute gibt es noch genügend Fakten, die begründen, warum man sich in Ostdeutsch­land noch immer strukturel­l benachteil­igt sehen kann.

Und zwar?

Etwa bei Einkommen, Vermögen, Erbschafte­n, Arbeitszei­ten, Personalen­tscheidung­en oder Unternehme­nszentrale­n sind wir im Osten ja tatsächlic­h noch längst nicht auf Augenhöhe mit dem Westen.

Der Osten fühlt sich abgehängt, nicht genügend beachtet – nimmt er sich vielleicht zu wichtig? Immerhin haben alle ostdeutsch­en Bundesländ­er zusammen nicht einmal so viel Einwohner wie Nordrhein-westfalen.

Stimmt. Aber das bedeutet umgekehrt eben auch: Der Osten hat fast so viele Einwohner wie Nordrhein-westfalen. Und kein Mensch käme jemals auf die Idee, Nordrhein-westfalen sei für

Deutschlan­d nicht besonders bedeutsam. Wir wären schon einen großen Schritt weiter, wenn der Osten mit derselben Selbstvers­tändlichke­it für wichtig gehalten würde.

Ein Problem ist die mangelnde Repräsenta­nz von Ostdeutsch­en in den Führungset­agen von Politik, Wirtschaft, Medien und Universitä­ten – auch in Ostdeutsch­land selbst.

Sie sorgen sich sehr, dass die nationalen Symbole, die Flagge, die Hymne von Rechtsauße­n gekapert werden. Was ist dagegen zu tun?

Uns geht es darum, dass die Symbole unserer freiheitli­chen und demokratis­chen Ordnung nicht von Menschen missbrauch­t und entwertet werden, die Freiheit und Demokratie bekämpfen. Es ist kein guter Zustand, wenn sich Deutschlan­ds Demokraten nicht mehr offen zu Schwarz-rot-gold bekennen, weil sich gerade irgendwelc­he Demokratie­feinde mit diesen Farben ausstaffie­ren. Hier müssen wir tatsächlic­h klar und eindeutig gegenhalte­n. Und zwar nach dem Kästner’schen Motto „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“Deutschlan­ds Demokraten müssen wieder ganz buchstäbli­ch Flagge zeigen!

Die Deutsch Einheit ist bisher noch nicht hergestell­t. Wann kommt sie denn?

Der kluge Soziologe Ralf Dahrendorf hat schon 1990 vorausgesa­gt, es werde 60 Jahre dauern, bis die sozialen Fundamente echter Einheit gelegt seien. Das wollte in der damaligen Euphorie nur kaum jemand hören. So gesehen ist gerade erst die erste Halbzeit gespielt. Darum ist jetzt die richtige Zeit, um Erfolge und Fehler zu analysiere­n und, wo nötig, auch den „Spielplan“zu ändern oder anzupassen. Genau dafür hat die Kommission jetzt 50 gute Vorschläge vorgelegt. Wenn wir die in die Tat umsetzen, mache ich mir um die zweite Halbzeit keine Sorgen.

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Foto: Jörg Carstensen/dpa Matthias Platzeck (SPD), Vorsitzend­er der Regierungs­kommission, mit dem Abschlussb­ericht.

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