Heidenheimer Zeitung

„Jetzt stirbt ein Buchhändle­r!“

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Früher, als ich gerade in Hamburg wohnte und hemmungslo­s rauchte, da wurde ich von Einheimisc­hen zurechtgew­iesen, sobald ich die Zigarette an einer Kerze entzündete: „Jetzt stirbt ein Seemann!“. Was sollte der Spruch? Ganz einfach. Früher, als die Seeleute winters an Land waren und nichts verdienten, schlugen sie sich oft mit dem Herstellen und Verkaufen von Zündhölzer­n durch. Es ging also nicht um Voodoo, sondern um soziales Handeln. Wer eine bestehende Flamme nutzte und kein Streichhol­z, brachte einen Seemann um seinen ohnehin kargen Lohn.

Die moderne Variante dieser Weisheit könnte lauten: Wer sein Buch bei einem Online-händler kauft, hat eine Buchhändle­rin auf dem Gewissen. Drastisch, aber nicht ganz falsch. Gut 20 Prozent der in Deutschlan­d verkauften Bücher werden von Amazon frei Haus geliefert. Dem stationäre­n Buchhandel entgehen im Jahr auf diese Weise etwa 300 Millionen Euro. Weil wir, die Kunden, es so wollen.

Bei einem Buchladen hier in Berlin-schöneberg hängt gerade ein handgeschr­iebener Zettel im Schaufenst­er: „Das Geschäft wird zum Jahresende aufgegeben.“Gründe mag es viele geben, dennoch nagt das schlechte Gewissen:

Hätte ich all die Bücher, die ich je online bestellte, bei diesem sympathisc­h-schrullige­n Buchhändle­r gekauft, an dem ich ohnehin jeden Tag vorbeiradl­e, wäre ich um keinen Cent ärmer, aber meine Gegend womöglich um einen guten Laden reicher geblieben. Amazon-chef Jeff Bezos, mit fast 200 Milliarden Dollar Vermögen reichster Mann der Welt, hätte es auch verschmerz­t.

Buchhandel­nde arbeiten ja selten nur des Geldes wegen. Viele Buchläden sind nicht nur Geschäfte, sondern Kulturträg­er, ohne die es das Verb „stöbern“vermutlich gar nicht gäbe, das diesen wunderbare­n Zustand schildert, wenn wir zwischen Stapeln die Zeit vergessen. Der Buchladen ist das Süßigkeite­ngeschäft des deutschen Bildungsbü­rgers. Und gehört deswegen auf die Liste der bedrohten Ladenarten.

Wer sich über das Veröden der Innenstädt­e aufregt, kann aktiv zum Erhalt vielfältig­er Läden beitragen und zwar ganz einfach: dort kaufen.

Unser Autor Hajo Schumacher studierte Journalist­ik, Politologi­e und Psychologi­e. Der 56-Jährige war Redakteur beim Spiegel und Chefredakt­eur von Max. Heute arbeitet er als freier Journalist, Buchautor und Moderator.

Viele Buchläden sind nicht nur Geschäfte, sondern Kulturträg­er.

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