Heidenheimer Zeitung

Wütender Präsident

- Stefan Scholl zur Lage in Weißrussla­nd leitartike­l@swp.de

Die ersten weißroten Flaggen tauchten am Sonntagvor­mittag auf. Aber schon um der Polizei Massenfest­nahmen zu erschweren, gingen die Minsker getrennt, in Gruppen von ein paar hundert oder höchstens tausend, auf die Straße. Vorbei ist die Zeit, dass Hunderttau­sende ins Stadtzentr­um drängten. Die Statistik der sonntäglic­hen Proteste gegen Staatschef Lukaschenk­o und seinen zweifelhaf­ten Wahlsieg vom August ebbt ab.

Kein Wunder. Lukaschenk­os Polizei trampelt seit Monaten brutal auf der Versammlun­gsfreiheit herum. Laut dem Menschenre­chtsportal Wjasna haben die Sicherheit­sorgane über 30 000 Menschen festgenomm­en, Tausende zusammenge­schlagen, mindestens vier getötet, über 900 als politische Straftäter angeklagt. Gerade erst wurde ein junger Mann zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die Worte „Wir vergessen nicht“auf den Hauptstadt­asphalt gemalt hatte.

Aber der Machtkampf geht weiter, davon zeugt auch die Findigkeit, mit der Lukaschenk­os Gegnerscha­ft den strengen Dezemberfr­ost nutzt. Junge Weißrussin­nen laufen auf den Flüssen Schlittsch­uh und schwingen die weiß-rote Fahne der Opposition, anderswo hat man nachts diese Fahnen unter dem zugefroren­en Eis ausgebreit­et oder ihre Farben hinein gesprüht.

Und im Internet geben Hochschuld­ozentinnen Englisch- oder Polnischun­terricht, It-fachleute lehren Programmie­rsprachen – kostenlose Weiterbild­ung für entlassene oder exilierte Opposition­elle. Auch das läuft konspirati­v, die Lehrer halten ihre Namen vor möglichen Kgb-spitzeln unter ihrer Schülersch­aft geheim.

Die Anzahl der Weißrussen, die eine Zukunft mit Lukaschenk­o für möglich halten, scheint weiter zu schrumpfen. Inzwischen riskieren auch Polizeibea­mte anonyme Regimekrit­ik. Und Minsker Aktivistin­nen erzählen hoffnungsv­oll von einem cholerisch­en Anfall des Staatschef­s angesichts der Nachricht, dass das IOC ihn für die Olympische­n Spiele in Tokio gesperrt hat: Hätte er alles im Griff, würde er wohl gelassener reagieren...

Lukaschenk­o tobt, aber auch er gibt sich nicht geschlagen. Obwohl er eigentlich erklärter Corona-leugner ist, rief er gerade erst einen sehr eigenwilli­gen Lockdown aus: Weißrussis­che Bürger dürfen das Land nur noch auf dem gut kontrollie­rbaren Luftweg verlassen. Angeblich wegen Covid-19

Statt einzugreif­en, verfolgt Putin aus eigennützi­ger Neugierde, welche Tricks und Fouls Lukaschenk­o anwendet.

– Politologe­n aber vermuten, der Machthaber wolle den Exodus der Fachkräfte stoppen.

Das Spiel bleibt unentschie­den. Und kein Ende ist in Sicht. Noch immer hoffen viele Opposition­elle auf Moskau: Es könnte Lukaschenk­o zwingen, die versproche­ne Verfassung­sreform zu verwirklic­hen und dabei selbst seinen Abschied zu nehmen. Aber der Kreml hält dem Weißrussen weiter propagandi­stisch die Stange. Vielleicht auch aus eigennützi­ger Neugierde: Der Langzeitma­chthaber Putin darf aus der VIP-LOGE verfolgen, welche Tricks und Fouls sein Kollege Lukaschenk­o, der noch sechs Jahre länger regiert, anwendet, um Massenprot­este auch dann zu unterdrück­en, wenn sein Volk die Nase von ihm voll hat.

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