Wütender Präsident
Die ersten weißroten Flaggen tauchten am Sonntagvormittag auf. Aber schon um der Polizei Massenfestnahmen zu erschweren, gingen die Minsker getrennt, in Gruppen von ein paar hundert oder höchstens tausend, auf die Straße. Vorbei ist die Zeit, dass Hunderttausende ins Stadtzentrum drängten. Die Statistik der sonntäglichen Proteste gegen Staatschef Lukaschenko und seinen zweifelhaften Wahlsieg vom August ebbt ab.
Kein Wunder. Lukaschenkos Polizei trampelt seit Monaten brutal auf der Versammlungsfreiheit herum. Laut dem Menschenrechtsportal Wjasna haben die Sicherheitsorgane über 30 000 Menschen festgenommen, Tausende zusammengeschlagen, mindestens vier getötet, über 900 als politische Straftäter angeklagt. Gerade erst wurde ein junger Mann zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die Worte „Wir vergessen nicht“auf den Hauptstadtasphalt gemalt hatte.
Aber der Machtkampf geht weiter, davon zeugt auch die Findigkeit, mit der Lukaschenkos Gegnerschaft den strengen Dezemberfrost nutzt. Junge Weißrussinnen laufen auf den Flüssen Schlittschuh und schwingen die weiß-rote Fahne der Opposition, anderswo hat man nachts diese Fahnen unter dem zugefrorenen Eis ausgebreitet oder ihre Farben hinein gesprüht.
Und im Internet geben Hochschuldozentinnen Englisch- oder Polnischunterricht, It-fachleute lehren Programmiersprachen – kostenlose Weiterbildung für entlassene oder exilierte Oppositionelle. Auch das läuft konspirativ, die Lehrer halten ihre Namen vor möglichen Kgb-spitzeln unter ihrer Schülerschaft geheim.
Die Anzahl der Weißrussen, die eine Zukunft mit Lukaschenko für möglich halten, scheint weiter zu schrumpfen. Inzwischen riskieren auch Polizeibeamte anonyme Regimekritik. Und Minsker Aktivistinnen erzählen hoffnungsvoll von einem cholerischen Anfall des Staatschefs angesichts der Nachricht, dass das IOC ihn für die Olympischen Spiele in Tokio gesperrt hat: Hätte er alles im Griff, würde er wohl gelassener reagieren...
Lukaschenko tobt, aber auch er gibt sich nicht geschlagen. Obwohl er eigentlich erklärter Corona-leugner ist, rief er gerade erst einen sehr eigenwilligen Lockdown aus: Weißrussische Bürger dürfen das Land nur noch auf dem gut kontrollierbaren Luftweg verlassen. Angeblich wegen Covid-19
Statt einzugreifen, verfolgt Putin aus eigennütziger Neugierde, welche Tricks und Fouls Lukaschenko anwendet.
– Politologen aber vermuten, der Machthaber wolle den Exodus der Fachkräfte stoppen.
Das Spiel bleibt unentschieden. Und kein Ende ist in Sicht. Noch immer hoffen viele Oppositionelle auf Moskau: Es könnte Lukaschenko zwingen, die versprochene Verfassungsreform zu verwirklichen und dabei selbst seinen Abschied zu nehmen. Aber der Kreml hält dem Weißrussen weiter propagandistisch die Stange. Vielleicht auch aus eigennütziger Neugierde: Der Langzeitmachthaber Putin darf aus der VIP-LOGE verfolgen, welche Tricks und Fouls sein Kollege Lukaschenko, der noch sechs Jahre länger regiert, anwendet, um Massenproteste auch dann zu unterdrücken, wenn sein Volk die Nase von ihm voll hat.